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Mythos

Mythos

Titel: Mythos
Autoren: Markus C Schulte von Drach
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zu übernehmen, hatte dieser Geruch ebenfalls in der Luft gehangen. Die Landluft hatte er als willkommene Alternative zum ewigen Smog in Rom, der Ewigen Stadt, erlebt.
    Er kurbelte das Seitenfenster zu und stieg aus dem Wagen. Langsam passierte er zu Fuß die alten Häuser am Dorfeingang. Hinter großen Scheunentoren hörte er Rinder rumoren, ein Trecker bretterte aus einer Hofeinfahrt. Der Bauer hinter dem Steuer schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen neugierig an. Aber er erkannte seinen ehemaligen Pfarrer im Licht der untergehenden Sonne offenbar nicht wieder.
    Wie von selbst führten seine Schritte d’Albret hinüber zur kleinen grauen Kirche mit ihrem niedrigen Turm. Doch bevor er den Kirchhof mit dem Friedhof hinter der hohen Mauer erreicht hatte, bog er ab und setzte sich auf eine Bank am Straßenrand. Das Gras müsste gemäht werden, dachte er.
    Aus der Tür des Hauses im Schatten der Kirche trat ein Junge auf den Bürgersteig hinaus. Widerspenstige blonde Locken wippten, als er ohne aufzusehen auf einem Bein von einem Pflasterstein zum nächsten hüpfte, offenbar bemüht, nicht auf die Fugen dazwischen zu treten. D’Albret erinnerte sich daran, wie er als Kind das Gleiche getan hatte. Sein Schulweg hatte ihn jeden Wochentag über eine Reihe gepflasterter Einfahrten vor den Nachbarhäusern geführt. Und er hatte sich jedes Mal selbst versichert, wenn er es schaffen würde, diese Strecke in 20 Sekunden zu schaffen, ohne auf eine Ritze zu treten, würde einer seiner Wünsche in Erfüllung gehen. Manchmal war es ihm gelungen, und manchmal war tatsächlich einer seiner Wünsche in Erfüllung gegangen.
    Dann fiel ihm ein, wie er als Junge abends im Bett gelegen hatte, fest entschlossen, hundert Mal das Vaterunser aufzusagen, damit er zum Geburtstag ein Rennrad bekommen würde. Er war jedes Mal eingeschlafen, bevor er das selbst auferlegte Soll erfüllt hatte. Aber das Rennrad hatte er trotzdem bekommen. Und er hatte es als besonderen Gnadenbeweis Gottes betrachtet, der ihn allein für seine guten Vorsätze schon belohnt hatte.
    Für das Kind Arnaud hatte das alles Sinn gemacht – das Ritual der Vermeidung der Ritzen genauso wie das Aufsagen des Vaterunsers. Doch er war kein Kind mehr. Jetzt nicht mehr. Das Kind in ihm, das geglaubt hatte, Gott würde belanglose Gebete belangloser Menschen nach einem unbegreifbaren Bewertungsschema erhören, war in Peru gestorben. Und damit auch der Glaube an den Sinn von Ritualen. An den Sinn simpler Unterwerfung. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen gehabt, dort am Río Nahuati. Und er hatte dabei nicht an Gott gedacht. Vielleicht weil auch kein Gott an ihn gedacht hatte. Er hatte vielmehr voller Bedauern an zwei Menschafe zwei Men gedacht und daran, dass er sie nicht wiedersehen würde. Als er dann in diesem Hubschrauber über dem Dschungel Perus irgendwann begriffen hatte, dass er wirklich noch über Zeit verfügte auf dieser Erde, da hatte er sich gefühlt wie wiedergeboren. Er hatte noch Zeit! Aber er hatte keine Zeit mehr für sinnlose Rituale. Es gab Menschen, die es verdient hatten, dass er sich ihnen widmete. Menschen, zu denen er eine echte Beziehung besaß, die sich in seinen Tränen beim Abschied von Génicourt widergespiegelt hatte. Wie lächerlich kam es ihm jetzt vor, dass er, dieses kleine Menschlein, versucht hatte, eine Verbindung zwischen anderen Menschen und einem Gott herzustellen. Was war denn an ihm so besonders, dass er sich berufen fühlte? Wieso brauchten Menschen andere Menschen als Kanal, als Verstärker zum Empfangen der göttlichen Sendung? Wieso brauchte man Theologen, um die heiligen Schriften zu studieren und die göttliche Botschaft zu verstehen? Wieso sprach Gott in Rätseln?
    Wieso, wieso, wieso … wieso glaubte er an Gott? Weil die Hoffnung wirklich erst zuletzt starb, wenn man an ein Leben nach dem Tod glaubte. Das aber war kein Beweis für die Existenz Gottes, sondern nur für eine positive Wirkung des Glaubens selbst. Wenn er Gott finden wollte, dann musste er woanders suchen als im Trost, den der Glaube spenden konnte.
    In den vergangenen Tagen waren ihm einige Dinge klar geworden. Er hatte, wie wohl die meisten Menschen, alles, was er hörte und sah, vor dem Hintergrund dessen beurteilt, was er einmal gelernt hatte. Es gab aber auch Menschen, die das, was sie einmal gelernt hatten, infrage stellten, wenn sie etwas Neues erfuhren. Es gab Menschen, die eine optische Täuschung sahen und sich nicht nur fragten, was mit diesem
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