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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
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hinweg.
    »Tu nicht so gefühlsduselig, Ricardo! Und im Übrigen, hast du nicht drei Enkelkinder?«
    »Vier«, verbesserte er sie, »es sind inzwischen vier.« »Na also! Worüber regst du dich auf?«
    »Sie sind mir nicht ans Herz gewachsen«, erwiderte er mit einer Ehrlichkeit, die vielleicht vom Whisky herrührte. Ich war betroffen, doch Francesca zog nur die knochigen Schultern hoch.
    »Tja, die Nachkommen entsprechen selten unserem Geschmack. «
    Später setzten wir uns an die kostbar gedeckte, von Royal-Worcester-Porzellan und Altsilber glänzende Tafel. Domenica hatte für alles gesorgt, gewissenhaft und zeitlos. Vor Francesca standen in einer Kristallschale duftende Nelken, Anemonen und Pfingstrosen. Auf der Veranda im warmen Licht schwirrten ganze Geschwader von Nachtmotten, und im Garten schrillten nervenaufreibend die Zikaden. Francesca, die ihre Augen immer in Bewegung hatte, rief plötzlich:
    »Das überrascht mich aber sehr!«
    Sie deutete auf ihr Porträt, auf die schöne junge Frau mit den bloßen Schultern, den herausfordernden Blick. »Ich dachte, James hätte das Bild längst entfernt!«
    »Wie?« Ricardo antwortete wie ein Mann, der mit seinen Gedanken ganz woanders ist. »Davon war eigentlich nie die Rede. Außerdem hatte mein Vater in den letzten Jahren ein schlechtes Gedächtnis.«
    Sie lachte kurz und verächtlich auf.
    »Dann hatte er auch vergessen, dass ihm sein schlechtes Gewissen in die Suppe guckte. Seniler Schwachsinn hat auch praktische Seiten. Schade! Ich hätte ihm gern den Appetit verdorben. «
    Domenica hatte ein reichliches Abendessen gekocht, aber Francesca nahm von allem nur einige Bissen. Zeitverschiebung. Müdigkeit. Dafür trank sie recht viel Rotwein, und je mehr sie trank, desto gesprächiger wurde sie und erzählte, wie es bei alten Menschen oft vorkommt, von ihren Krankheiten. Sie litt unter Arthrose, Versteifungen in den Schultern, in den Hüften. Sie wollte sich nicht operieren lassen. Die Angst vor der Narkose, ja, das war es. Fiel bei ihr der Blutzuckerspiegel, wurde ihr schwindelig. Sie hatte auch Herzrhythmusstörungen. Ihr Sehvermögen war noch recht gut, sie benutzte nur eine Lesebrille. Bei Flugreisen platzten ihr Äderchen in den Augen; die Gefahr eines Schlaganfalls war nie ausgeschlossen. Ich war zunächst gelangweilt, merkte aber bald, dass sie nicht darauf aus war, zu lamentieren. Sie stellte uns lediglich vor eine Tatsache, die nicht rosig war: das Alter eben. Ricardo missverstand sie natürlich.
    »Brauchst du einen Arzt? Ich kann dir Matthew Lewis empfehlen. Wir sind seit dreißig Jahren befreundet.«
    Ihr Mund, der eigentlich nur ein roter Schlitz war, verzog sich.
    »Er kann sich über mich hermachen, wenn es so weit ist, und mir den Abgang erleichtern. Bis dahin sterbe ich jeden Tag ein wenig, gemütlich, rational und ohne Tabletten.«
    Das war doch zu viel für Ricardo. Seine müde Stimme klang plötzlich gereizt.
    »Das sind Dinge, die man denken kann, aber nicht sagt. Wir haben schwere Zeiten durchgemacht, Lebensabschnitte, die betrüblich waren. Wir haben vielleicht ein klägliches Schauspiel geboten, das schon. Aber wir haben es akzeptiert.«
    Da warf sie ihre Gabel hin und zischte wie eine Schlange.
    »Auch ich habe schwere Zeiten durchgemacht. Und glaube mir, dass ich sie akzeptiert habe. Möglich ist nur, dass ich es künftig nicht mehr will!«
    Sie hielt ihre Augen auf Ricardo gerichtet, während er, als ob er auf diese Worte gefasst gewesen war und sie längst befürchtet hatte, es sichtlich nicht wagte, ihr die Stirn zu bieten. Seine Züge verrieten ein Gefühl von Ohnmacht, Schuld und Kummer.
    »Mach mir bitte keine Vorwürfe, Francesca«, sagte er leise. »Ich konnte ja nichts dafür.«
    Sie holte tief Luft, entspannte sich wieder.
    » Ich weiß. Und es tut mir leid, Ricardo. «
    Die Worte klangen versöhnlich, doch nach wie vor funkelten ihre Augen unnachgiebig. Ich merkte, wie Ricardos vergebliche Ausflüchte sie immer wieder zu schroffen oder abwehrenden Erwiderungen zwangen. Was war damals geschehen?, fragte ich mich, während Stille eintrat, nur noch die Gabeln gegen das Porzellan klirrten und die Zikaden schrillten. Warum hatte Francesca die Familie verlassen? Bloß für die Selbstverwirklichung? Ach, Unsinn, dachte ich. Früher gab es das Wort ja noch gar nicht. Francesca war etwas Besonderes. Eine alte Frau, gewiss, aber das Feuer in ihr war noch nicht erloschen. Als sie jung war, musste sie immer bekommen haben, was sie wollte.
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