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Murray,Paul

Murray,Paul

Titel: Murray,Paul
Autoren: Skippy stirbt (Teil 1)
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»Wir trinken schnell was,
dann gehen wir zurück«, sagt Miss Mclntyre. Sie durchsucht die Tragetaschen
nach den Ingredienzien - das mit den Cosmopolitans scheint sie ernst gemeint zu
haben -, und Howard sieht sich unterdessen mit den Händen in den Hosentaschen
die Bilder an den Wänden an. Der Geografieraum ist vom Boden bis zur Decke mit
Fotos, Schaubildern und anderen Darstellungen gepflastert. Eine ganze Wand
zeigt Luftaufnahmen der Erde: wilde Farbgewebe, die sich, liest man den Text
darunter, als Wolken am Mount Everest entpuppen, patagonische Eisfelder mit
Regenbogen, hunderttausend Flamingos im Flug über einen See in Kenia, eine
Luftaufnahme der Malediven. An einer anderen Wand hängen Bilder von glücklichen
Bananenpflückern in Südamerika, glücklichen Bergleuten im Ruhrgebiet und
glücklichen Volksstämmen in ihren Regenwäldern, Seite an Seite mit diversen
Grafiken: die wichtigsten exportgüter Europas, Minerale und ihre
nutzung, koltan - vom kongo in dein Telefon ! Der Raum mutet an wie ein
Schrein für das harmonische Wirken der Welt: an den Wänden eine Palette
natürlicher, wissenschaftlicher, agrarischer und wirtschaftlicher Fakten und
Prozesse in friedlicher Koexistenz; die Konsequenzen dieser Interaktionen für
den Menschen aber - Zwang, Folter und Versklavung, die jeden verdienten
Dollar, jeden Schritt in Richtung des angeblichen Fortschritts begleiten -
bleiben Howards Fach vorbehalten: Geschichte - der dunkle Zwilling, der
blutige Schatten.
    »Die
Vulkane da, die gefallen mir.« Er bleibt vor den Bildern an der Tür stehen.
»Vulkane sieht man heutzutage viel zu wenig.«
    »Wodka
... Cranberrysaft... verdammt, da war doch noch was anderes ...«, sagt Miss
Mclntyre zu sich selbst. »Sorry, was haben Sie gesagt?«
    »Ich
musste nur gerade dran denken, was Sie neulich gesagt haben, von wegen, dass
die Erde durch all die gewaltigen Kräfte entstanden ist ... Das stimmt. Wenn
man die Bilder hier anschaut, wird einem bewusst, dass wir uns in den Kulissen
eines Monumentalfilms bewegen, zu dem die Dreharbeiten vor hundert Millionen
Jahren eingestellt worden sind ...«
    »Cointreau!«,
ruft sie und wendet sich wieder den Tragetaschen zu. »Cointreau, Cointreau ...
ach, zum Teufel damit.« Sie nimmt einen Schluck aus der Wodkaflasche und reicht
sie an ihn weiter. »Kommen Sie, trinken Sie, das wärmt Sie auf.«
    »Na
dann, cheers«, sagt er. Sie ballt die Hand zur Faust und stößt sie spielerisch
gegen den Flaschenboden. Er trinkt. Der Wodka brennt bis in seinen Magen
hinunter. »Ich hör die Musik gar nicht mehr«, sagt er, um sich von dem
unangenehmen Gefühl abzulenken.
    »Wir
gehen ja gleich zurück.« Sie hüpft aufs Pult, schlägt die Beine unter und
betrachtet Howard spöttisch, wie ein Kobold auf einem Fliegenpilz. »Sie
wünschen sich also das Paläozoikum zurück, ja?«
    »Sind
eindeutig langweiligere Zeiten jetzt. Keine neuen Berge mehr, immer dieselben
alten Kontinente und Ozeane. Ab und zu ein Erdbeben mit ein paar Tausend Toten,
mehr Dramatik kriegen wir nicht mehr geboten.«
    Sie
quittiert seine Worte mit einem belustigten Lächeln, wie jemand, der beim
Pokern um Streichhölzer einen Royal Flush in der Hand hat.
    »Was
Dramatisches kann immer noch passieren«, sagt sie.
    »Eine
Eiszeit, das wär doch für die meisten dramatisch genug, meinen Sie nicht? Oder
Dublin, London, New York unter Wasser?«
    »Stimmt«,
sagt Howard.
    »Manche
Wissenschaftler glauben, dass es schon kein Zurück mehr gibt. Sie geben der
Welt, so wie wir sie kennen, noch fünfzehn Jahre. Wir könnten zu den
allerletzten Generationen unserer Spezies gehören.« Sie spult das im
Plauderton herunter, und in ihren Augen ist wieder dieses schelmische Flackern,
als handelte es sich um einen langatmigen, nicht für junge Ohren bestimmten
Witz ohne Pointe. »Die Jungs nehmen das sehr ernst. Entsorgen ihre Coladosen,
verwenden Energiesparlampen. Gestern haben sie Briefe an den chinesischen
Botschafter geschrieben. Die Chinesen wollen in einem UNESCO-Welterbe einen
Staudamm bauen, durch den Millionen von Menschen ihre Heimat verlieren, auch
die Naxi, eins der letzten Matriarchate der Erde - haben Sie das gewusst,
Howard? Die Jungs waren stinksauer! Aber die meisten Leute können so was
anscheinend ohne Weiteres an sich abgleiten lassen.«
    »Weil
ihnen die Inspiration durch Sie fehlt.«
    Sie
ignoriert die plumpe Schmeichelei. »Wahrscheinlich können wir uns einfach nicht
vorstellen, dass sich unser Lebensstil jemals
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