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Mozarts letzte Arie

Mozarts letzte Arie

Titel: Mozarts letzte Arie
Autoren: Matt Beynon Rees
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erkannte in ihr das Geschenk, das Wolfgang ihr an ihrem Hochzeitstag gemacht hatte.
    «Das stimmt. Von Klein-Wolfgangs Geburt wusste ich nichts», sagte ich. «Ist er gesund?»
    «Der Mehlhund hat ihn erwischt.»
    Die Infektion, die auch meinen Leopold im Alter von zwei Monaten beinahe umgebracht hätte, weiße Bläschen auf der Zunge und zwischen den Beinen. Husten, Heulen, Schlaflosigkeit. Ich hatte immer noch den Rosenkranz bei mir, den ich gekauft hatte, um für seine Genesung zu beten – aus dem Heiligen Land eine Kette aus getrockneten Nüssen, die die Heilkräfte Christi aus dem Erdboden aufgesogen hatten, da sie in der Nähe seines Grabes wuchsen.
    Ich sah das Baby an. Constanze schien meine Besorgnis zu spüren.
    «Dem Kleinen geht es jetzt gut, soweit ich das beurteilen kann», sagte sie. «Ich habe aber schon vier Kinder innerhalb weniger Wochen nach ihrer Geburt verloren. Gott segne sie alle. Sie kamen mir alle gesund vor, und ich habe alles, was ich konnte, für sie getan. Aber …»
    Noch eine Erinnerung: Babette, die Krämpfe und Spasmen, die sie erst vor einem halben Jahr von mir gerissen hatten, während sie noch ein Baby war. Ich befingerte den Rosenkranz in meiner Tasche. «Ich auch …»
    Constanze hatte gar nicht bemerkt, dass ich etwas gesagt hatte. «Ich habe alle Babys mit Haferschleim gefüttert, damit sie nicht Muttermilchfieber bekamen, und ich habe die Anweisungen der Ärzte befolgt. Aber die Medizin hat ihnen so wenig geholfen wie meinem Mann.» Sie setzte den strampelnden Hund auf den Boden. «Warum ist er so von uns gegangen?»
    Ich trat dicht an sie heran. «Wo ist mein Bruder gestorben?»
    Sie drückte mit dem Rücken die Tür auf und deutete mit dem ausgestreckten Arm ins Nebenzimmer.
    Um Platz zu sparen, diente die Kammer zugleich als Schlafzimmer und dazu, Gäste zu empfangen. An der Wand standen zwei zusammengeschobene Betten. Ein Eisenofen, dessen Rohr durch die Zimmerdecke lief, tickte und klapperte in einer Ecke. Meine Schwägerin stützte sich auf den Billardtisch in der Zimmermitte und zitterte trotz der Ofenhitze.
    «Diese vier Wände, zwischen denen wir jetzt stehen – es ist so, als hätten sie der ganzen Welt das Leben ausgesaugt. Alles Gute, das je existiert hat, ist in diesem Zimmer gestorben», sagte sie. «Hier hat er mehr als zwei Wochen gelegen, bis …»
    Ich näherte mich den Betten. Mein Mund war trocken. Auf meiner Stirn standen Schweißperlen. Für einen Moment war mir, als läge er immer noch unter den zerlumpten Decken.Ich öffnete den Mund, um mich zu entschuldigen, um seine Vergebung zu erbitten für den Schmerz, den ich ihm zugefügt hatte.
    Aber ich hielt inne. Das Bett war leer. Wenn ich Vergebung erlangen wollte, musste sie mir auf andere Weise zuteilwerden.
    «Vor seiner Krankheit», sagte Constanze, «war dieses Zimmer seine ganze Freude. Hier spielte er Billard mit anderen Musikern und rauchte seine Pfeife. Sie machten Scherze über die aufgeblasenen Adligen, für deren Unterhaltung sie zuständig waren. Und hier haben er und ich natürlich auch unsere Nächte verbracht.»
    Ich fand es ungehörig, in solch einer Situation auf eheliche Beziehungen anzuspielen. Constanze bemerkte die Missbilligung auf meinem Gesicht. Sie legte sich die Hände auf den Bauch und schluchzte.
    Ich wäre gern mit meinen Vorstellungen über die letzten Augenblicke meines Bruders allein gewesen, hätte den Spuren letzter Noten nachgelauscht, die er an diesem Ort gespielt haben mochte. Stattdessen ging ich zu ihr und tätschelte ihr die Wange. «Lass uns in sein Arbeitszimmer gehen.»
    Constanze führte mich ins letzte Zimmer der Wohnung. Die Düsternis des geschlossenen Schlafzimmers verschwand. Winterlicht brach weiß durch zwei Doppelfenster. Es flimmerte über Wolfgangs Klavier, als spielten Geisterhände auf den Elfenbeintasten.
    Das Instrument zog mich an. Das polierte Walnussholz war köstlich, versehen mit dem Namen Anton Walters, des meisterhaften Wiener Klavierbauers. Ich setzte mich auf den Schemel.
    Ich schlug einen leisen Akkord an und schloss die Augen. Ein Frosthauch schien über meinen Hals zu wehen. Meine Finger zitterten. Ich presste sie auf dem Schoß zusammen.
    Constanze lehnte an einem hohen Pult. Es war so konstruiert, dass man im Stehen schreiben konnte. Sie nahm ein Riechfläschchen aus geschliffenem Glas aus dem Tintenhalter, zog den Stöpsel heraus und hielt es sich unter die Nase. Ein Hauch Jasmin durchzog die Luft.
    «Wolfgangs Eau de Cologne»,
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