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Mozarts letzte Arie

Mozarts letzte Arie

Titel: Mozarts letzte Arie
Autoren: Matt Beynon Rees
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Herr mit einem breitkrempigen englischen Hut war so freundlich, mich in einen bescheidenen Hof zu führen. Pferdefutter und nasses Heu rotteten in der kalten Luft.
    «Sie finden die Wohnung des verstorbenen Komponisten im ersten Stock, Madame», sagte er. «Sie werden heute nicht die Einzige sein, die der Witwe ihre Aufwartung macht, aber sie dürften die Erste sein. Unsere kleine Straße war während der ganzen Woche voller trauernder Musikfreunde.»
    «Das glaube ich gern.» Ich wandte mich dem Treppenhauseingang zu.
    «Ich kannte ihn nur vom Sehen», rief mir der Herr nach. «Man hätte es sich kaum denken können – so ein kleiner, bescheidener Mann, aber sein Werk – Meisterwerke, genial. Aber wenn man ihn so sah – tja, man hätte ihn wirklich fast übersehen können. Haben Sie ihn gekannt, Madame?»
    «Als ob er mein eigener Bruder gewesen wäre», sagte ich.
    Das traurige Lächeln des Herrn wandelte sich in Verblüffung. Wie jemand, der das Gesicht eines entfernten Bekannten einzuordnen versucht, hob er die Hand.
    Der Wind wehte in den Hof. Ich ging an der offenen Toilettentür des Gebäudes vorbei und betrat das dunkle Treppenhaus.
    Im ersten Stock zog ich mir die Kapuze des Mantels vom Kopf und ließ sie über die Schultern fallen. Aus der Wohnung hörte ich, wie eine hohe Stimme jemanden beim Namen rief, und wusste, dass es meine Schwägerin war. Gegenüber der Frau, die meiner Familie meinen Bruder geraubt hatte, empfand ich einen Anflug von Ärger. Ich klopfte mit den Fingerknöcheln an die Tür. Ein Schoßhund antwortete mit einem schrillen Kläffen.
    Ein kleines dickes Mädchen mit roten Wangen und schwarzem Haar, das unter eine weiße böhmische Haube gestopft war, öffnete die Tür und knickste.
    «Grüß Gott», sagte sie.
    «Grüß Gott. Bitte melden Sie Frau Mozart, dass ihre Schwester da ist», sagte ich.
    Das Mädchen führte mich durch die Küche, vorbei am Herd und zwei Metallbetten für die Bediensteten. Wir kamen in ein Wohnzimmer, in dem ein halbes Dutzend Stühle mit Leinwandpolstern um ein Sofa herumstanden. Das Mädchen nahm mir den Mantel ab und ging weiter ins nächste Zimmer.
    An der Wand hing ein Spiegel mit Goldrahmen. Ich sah hinein und massierte mir die Wangen, um mir nach der kalten Luft etwas Blut unter die Haut zu treiben.
    Im Spiegel erschien meine Schwägerin. Sie stand in der Tür, trug einen schwarzen Wollschal und ein weites schwarzes Kleid, das unter der Brust zusammengerafft war. Ihr Mund stand offen, und ihre weißen Zähne ließen sie ausgehungert und verzweifelt aussehen. In der Hand hielt sie eine kurze Jacke, die sie zum Teil aufgeribbelt hatte, um die Wolle wieder nutzen zu können.
    Als ich auf sie zuging, legte sie die Wolle beiseite. Ich ergriff ihre Hände. Ihre schwarzen Augen waren von der Hoffnungslosigkeit der vergangenen Tage gerötet.
    «Liebste Constanze.» Ich drückte ihr meine Lippen auf die Wange; sie war kalt. Ich berührte mit der Handfläche die schwarzen Locken, die ihr über die bleiche Stirn fielen. Sie war erst neunundzwanzig und noch kleiner als ich, mit einer Figur, deren knabenhafte Schlankheit durch ihre vielen Schwangerschaften nicht beeinträchtigt worden war.
    Ein weißer Spaniel rieb sich aufgeregt bellend an meinen Röcken. Constanze bückte sich und hob den Hund auf den Arm. «Gaukerl», flüsterte sie. Der Hund schien ihr Wärme und Lebendigkeit zu schenken. Sie lächelte mir zu und ergriff meine Hand. «Komm, Schwester.»
    Wir betraten das Wohnzimmer. Zwei schlicht lackierteKommoden standen an den Wänden. Hinter zwei Diwanen standen drei große Wandschränke, mit Tapeten in Zitronenstreifenmuster dekoriert.
    In einer Ecke strampelte ein neugeborenes Baby in einer Wiege. Ein etwa siebenjähriger Junge versteckte sich hinter dem Rock seiner Mutter. «Karl, begrüße deine Tante Nannerl», sagte Constanze. «Sie ist Papas Schwester.»
    Der Junge stampfte mit dem Fuß auf den Dielenboden, verzog sich ins angrenzende Zimmer und knallte die Tür zu. Ich dachte an meinen Leopold, der jetzt mit meinen widerspenstigen Stiefkindern zu Hause war, und empfand Schuldgefühle, ihn zurückgelassen zu haben.
    Constanze lächelte verlegen wegen des Benehmens des Jungen. Sie beugte sich über die Krippe und wiegte sie mit dem Fuß.
    «Das ist Klein-Wolfgang», sagte sie. «Er ist noch keine fünf Monate alt. Aber du wusstest natürlich nicht –» Sie hielt sich die Hand vor den Mund. Eine kleine goldene Uhr baumelte an ihrem Unterarm. Ich
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