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Mottentanz

Mottentanz

Titel: Mottentanz
Autoren: Lynn Weingarten
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war, immer hier gewesen war. Ich Dummchen hatte sie nur nicht bemerkt. Ich lachte. Dann beugte ich mich vor und hob den Haarklumpen auf — er fühlte sich schwer an, wie ein nasses Seil in meiner Hand. Ich hielt ihn hoch, und erst jetzt sah ich den Hautfetzen, der wie rohes Fleisch daran hing. Und ich wusste ohne nachzudenken genau, was das bedeutete.
    Alles wurde schwarz, und ich hörte nur ein schrilles tierisches
Kreischen, von dem ich schließlich aufwachte. Es gellte in meinen Ohren, und ich wusste nicht, ob es von draußen oder aus mir kam.

Kapitel 4

    Hier sind die Tatsachen, die simplen Tatsachen. Alles, was ich weiß, im Grunde genommen kaum etwas. Vor zwei Jahren verschwand Nina Melissa Wrigley am 24. Juni spurlos. Sie war am späten Nachmittag aus dem Haus gegangen und nie wiedergekommen.
    Und ich meine spurlos. Sie war weder bei MySpace noch bei Facebook registriert und ein Handy besaß sie auch nicht. All ihre Sachen lagen noch genau so in ihrem Zimmer wie vorher – Kleiderhaufen auf dem Boden, Haarfarbetuben auf dem Nachttisch, Skizzenblöcke, Bleistifte, Pastellkreiden und Tintenfässer überall. Das einzig Auffällige war die Schulabschluss-Robe in ihrem Schrank. Nina hatte eine Woche zuvor die Highschool abgeschlossen und war zwei Monate davor achtzehn geworden.
    Nina war eine herausragende Künstlerin. Das klingt wahrscheinlich voreingenommen, aber ich glaube, dass es stimmt, denn alle, die jemals eine Zeichnung von ihr sahen, behaupteten dasselbe. Sie konnte absolut alles fotorealistisch zeichnen. Aber ihr wahres, einzigartiges Talent bestand darin, dass sie Details zeichnen konnte, die auf den ersten Blick gar nicht auffielen. Der seltsame Winkel, in dem das Sonnenlicht
einfiel, der ängstliche Gesichtsausdruck, den ein Mensch unbewusst aufsetzte.
    Nina machte aus allem ein Kunstobjekt. Sie zeichnete detaillierte Landschaften auf die Sohlen ihrer Turnschuhe und verzierte ihre T-Shirts mit Porträts von Leuten, die sie auf der Straße sah. Alle paar Wochen färbte sie sich die Haare in einer neuen Knallfarbe, die zu ihrer augenblicklichen Stimmung passte. Zwei Wochen vor ihrem Verschwinden entschied sie sich für Blau, ein »Schulabschluss-Blau«, wie sie sagte. Ich weiß noch, wie ich mit ihr in der Küche saß und sie dabei beobachtete, wie sie sich Farbe auf den Kopf schmierte wie andere Leute Ketchup auf die Pommes.
    »Es ist noch ein bisschen was übrig«, sagte sie, als sie fertig war. »Willst du auch eine Strähne, Belly?«
    Ich nickte. Ich fand es toll, dass sie mich mitmachen ließ, auch wenn mir schlecht wurde, wenn ich daran dachte, wie meine Mutter reagieren würde. Nina schmierte die Farbe auf eine Haarsträhne hinter meinem linken Ohr. Ich weiß noch genau, wie schwer und kalt sich die Farbe auf meinem Kopf anfühlte. Ich hatte mir ein Küchentuch auf die Schulter gelegt, um die Tropfen aufzufangen. Während die Farbe wirkte, saßen wir beide einfach nur da, witzelten und lachten und tanzten zu den Songs, die sie aufgelegt hatte. Ich weiß noch, dass ich dachte, dies sei endlich ein Zeichen dafür, dass ich nun alt genug dafür war, endlich Ninas Freundin zu werden. Nicht schwesterliche, jüngere Freundin, sondern eine echte Freundin, mit der man nur zufällig verwandt war. Ich war unglaublich glücklich. Nina verbrachte damals nur sehr wenig Zeit zu Hause, und wenn sie da war, war sie eigentlich
auch nicht wirklich anwesend. Aber an jenem Tag, als wir in der Küche saßen und den süßen Geruch der Chemikalien einatmeten, glaubte ich, eine neue Zeit sei angebrochen. Alles würde sich von nun an ändern. Und das stimmte auch, allerdings nicht so, wie ich es mir gewünscht hatte.
    Zwei Wochen später war Nina weg. In ihrem Zimmer lag noch das Handtuch mit den Farbflecken zusammengeknüllt auf dem Boden. Ich zeigte weder meiner Mutter noch sonst jemandem die blaue Strähne. Bis die Farbe draußen war, trug ich mein Haar offen. Nur Nina und ich hatten sie gesehen.
    Meine Schwester Nina hatte noch eine andere Besonderheit: Sie machte nur, was sie wollte. Sie war nicht leichtsinnig, aber sie machte sich einfach weniger Sorgen als andere Menschen. Nina hatte keine Angst davor, erwischt oder ausgelacht zu werden. Sie hatte keine Angst davor, dass man sie für dumm halten könnte. Sie stieg Nachts ins Freibad ein, schwänzte die Schule und redete mit Fremden. Wenn sie einen Typen mit einem Cowboyhut sah, der ihr gefiel, sagte sie: »Hey Cowboy, darf ich deinen Hut mal anprobieren?« Und
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