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Mottentanz

Mottentanz

Titel: Mottentanz
Autoren: Lynn Weingarten
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am Ende schenkte er ihr das Ding dann.
    Mit sechzehn begann sie, sich nachts aus dem Haus zu schleichen. Sie ging wie gewöhnlich ins Bett, und ich wusste nur, dass sie nicht zu Hause gewesen war, weil ich sie frühmorgens vor Sonnenaufgang die Treppe hinaufschleichen hörte. Sie roch nach einer Mischung aus Alkohol, Rauch und ihrem Ingwer-Orangen-Parfum. Was sie nachts so machte, wusste ich nicht. Sie war nie hemmungslos betrunken, meist nur ein bisschen angeheitert. Wenn ich sie fragte, wo sie gewesen war, antwortete sie nur mit einem Augenzwinkern
oder einem Grinsen. Nina verstand es wunderbar, Fragen auszuweichen.
    Eine Zeit lang versuchte meine Mutter, ihre nächtlichen Ausflüge zu unterbinden, aber mein Vater lebte damals schon längst nicht mehr bei uns, und da sie meist Nachtschicht hatte, konnte sie nicht viel ausrichten. Außerdem war Nina ausnahmslos, absolut immer im Morgengrauen wieder zu Hause. Bis sie verschwand.
    Ich wünschte, die folgende Tatsache wäre nicht wahr, aber das ist sie und ich kann nichts daran ändern. Als ich Nina das letzte Mal sah, schrie ich sie an. Sie wollte gerade eine der Eiswaffeln essen, die meine Mom gekauft hatte, weil ich sie so gerne mochte. Und ich hielt sie davon ab und schrie, dies sei mein Eis und wenn sie nicht zu Hause sein wolle, dürfe sie es nicht essen. Das war unglaublich kleinlich von mir und ungeheuer dumm. Ich war nur verletzt, weil sie kaum zu Hause gewesen war, und ich wollte, dass es ihr leidtat. Irgendwie kam ich auf die Idee, sie anzuschreien, wäre die beste Art, sie dazu zu bringen. Aber sie sah mich nur an.
    »Okay, Belly«, sagte sie. »Ich leg sie wieder zurück, okay? Ich esse sie nicht.« Ich kann mich noch genau an ihren Gesichtsausdruck erinnern. Sie war nicht wütend, sondern ein bisschen verwirrt und verletzt, als habe sie keine Ahnung, warum ich so wütend war. Nach ihrem Verschwinden spielte ich diese Szene monatelang in meinem Kopf ab und stellte mir Versionen vor, in denen ich ihr die Eiswaffel gab, ihr die ganze Schachtel gab. Als hätte ich so verhindern können, was geschehen war.
    Noch eine ungute Tatsache: Als Nina verschwand, schien
meine Mutter es anfangs gar nicht zu bemerken. Wahrscheinlich macht man sich später als andere Leute Sorgen, wenn man jede Nacht im Krankenhaus arbeitet und dort die Dinge sieht, die sie mitbekommt. »Deine Schwester ist nicht verschwunden«, sagte meine Mutter nur. »Sie ist nur nicht da.« Meine Gegenargumente – Nina würde uns, würde mich niemals einfach so verlassen –, schien sie gar nicht zu registrieren. Ich wollte, dass auch meine Mutter sich Sorgen machte, weil ich den Schmerz alleine nicht ertragen konnte. Aber meine Mutter war nur weiterhin ernst und erschöpft. Und ich hätte schwören können, dass sie ein wenig Erleichterung verspürte. Einige ihrer Falten wirkten auf einmal weniger tief, als hätte sie achtzehn Jahre lang die Zähne zusammengebissen und könnte sich nun endlich ein bisschen entspannen.
    Ich akzeptierte, dass meine Mutter nichts unternehmen würde, und nahm die Sache selbst in die Hand. Ich druckte Poster mit dem Satz HABEN SIE MEINE SCHWESTER GESEHEN? mit dem teuren Farbdrucker von Amandas Eltern aus und hängte sie in der ganzen Stadt auf. Ich rief ihre Freunde an, zumindest die, an deren Namen ich mich erinnerte. Ich rief sogar unseren Vater an, der uns verlassen hatte, als ich sieben gewesen war. Ich hatte zwei Jahre lang nicht mit ihm gesprochen und die Verbindung war so schlecht, dass ich dreimal meinen Namen in den Hörer schreien musste, bis er kapierte, wer ich war.
    Schließlich schaltete ich die Polizei ein. Aber als sie bei uns auftauchten, schickte meine Mutter mich aus dem Zimmer. Sie sprach im Flüsterton mit ihnen und servierte ihnen in der Küche schwachen, aus Pulver angerührten Eistee. Zwanzig
Minuten später verließen sie unser Haus mit unbesorgten Mienen. Meine Mutter spülte ihre Gläser unter dem Wasserhahn aus.
    Aber dann begannen die Anrufe. Zuerst nur vereinzelte, aber dann eine wahre Flut, einer nach dem anderen. Ich weiß nicht, ob eine oder mehrere Personen anriefen, denn meine Mutter verbot mir, ans Telefon zu gehen. Eines Abends, es war schon sehr spät und ich hätte längst im Bett sein sollen, klingelte das Telefon wieder, wie schon den ganzen Tag. Ich schlich mich zum Zimmer meiner Mutter und spähte durch den Türspalt. Sie saß im Bademantel auf ihrem Bettrand, ich sah nur ihren Rücken. »Nina ist nicht hier«, sagte meine
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