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Mottentanz

Mottentanz

Titel: Mottentanz
Autoren: Lynn Weingarten
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Buchdeckel. Enzyklopädie Psychischer Krankheiten.
    »He, Amanda.« Ich nehme das Buch und stehe auf. »Glaubst du, wir finden ein Bild von Eric in dem Kapitel über…« Ich verstumme.
    Ein rechteckiges Stück Karton mit abgerundeten Ecken, ein bisschen kleiner als eine Karteikarte, ist aus dem Buch gefallen und flattert zu Boden. Ich greife danach und hebe es auf. Sobald ich das Ding anfasse, fängt mein Herz an, wie wild zu klopfen, und mir wird schwindelig, als hätte ich mich zu schnell im Kreis gedreht. Das Zimmer beginnt zu schwanken. Meine gesamte Umgebung wirkt plötzlich unwirklich, und ich habe Angst, gleich in Ohnmacht zu fallen. Ich höre undeutlich, wie Amanda meinen Namen ruft, aber ich kann nicht antworten. Ihre Stimme klingt fremd und wie aus weiter Ferne an mein Ohr. Alles ist fremd, bis auf eines. Das Bild auf dem Stück Karton in meiner Hand, das von blauen Weinreben umgeben ist. Ich starre so gebannt darauf, dass sie sich vor meinen Augen winden wie zarte blaue Schlangen. Und
im Zentrum dieser Weinreben ist das Gesicht eines Mädchens gezeichnet. Große runde Augen, runde Nase, wilde Locken, ein Grübchen, ein schiefes Lächeln. Ich kenne diese Zeichnung.
    Ich habe sie seit meiner Kindheit immer wieder gesehen, in Skizzenbüchern, auf Servietten und Papiertischdecken, in einem selbst gezeichneten Comic, den mir ein Mädchen geschenkt hat, das ich seit zwei Jahren nicht gesehen habe und an das ich nicht denken will, weil ich keine Ahnung habe, wo sie ist, was sie macht oder ob sie überhaupt noch lebt. Ich habe beinahe die Hoffnung darauf aufgegeben, jemals wieder von ihr zu hören, auch wenn ein winziger, kleiner Teil von mir immer noch glaubt, dass sie wiederkommen oder mir ein Zeichen schicken wird, wenn ich am wenigsten damit rechne.
    Und diese Zeit ist gekommen, denn dies ist das Zeichen.
    Dies ist mein Gesicht.
    Ich blinzele und schaue zu Amanda hoch, die immer noch ihr lächerliches Outfit trägt.
    »Amanda«, flüstere ich. »Schau.« Ich halte den Karton hoch, so dass das Licht ihn trifft und das Bild zum Leuchten bringt. »Meine Schwester.«

Kapitel 3

    In den ersten drei Nächten nach Ninas Verschwinden konnte ich nicht schlafen. Ich lag in meinem Bett, den Kopf ganz nah am offenen Fenster. Die schwere, feuchte Juniluft strich über meine Haut wie heißer Atem.
    Wenn ich hörte, wie sich aus der Ferne ein Auto näherte und auf mein Haus zufuhr, begann mein Herz so heftig zu klopfen, dass ich es in meinem gesamten Körper spürte. Ich stellte mir vor, dass meine Schwester in diesem Auto saß und ich gleich hören würde, wie sie nach Hause kam. Das leise Klicken einer sich öffnenden Autotür, die Flut von Geräuschen aus dem Inneren, Lachen, Flüstern, dumpfe, rhythmische Beats, kurz laut, aber dann schnell leiser gedreht. Eine Pause. Dann das Zuknallen der Autotür, das Geräusch von Flip-Flops in der Auffahrt, das Knirschen des Schlüssels im Schloss und das Knarren der sich öffnenden Haustür. Und dann die beinahe lautlosen Schritte meiner Schwester auf der mit Teppich ausgelegten Treppe. Ich biss mir auf die Lippen, ballte die Hände zu Fäusten und hoffte, hoffte, hoffte, dass ich dies gleich hören würde. Aber jedes Mal fuhr das Auto weiter, ohne langsamer zu werden, und ich spürte eine so schwere Enttäuschung auf mir lasten, dass ich kaum
atmen konnte. Jede Nacht dreißigmal dieses adrenalinbefeuerte Hoffnungs-High und der Absturz danach. Unglaublich anstrengend, aber leider nicht genug, um mich einschlafen zu lassen.
    Während dieser drei Tage lief ich herum wie in Trance. Zeit bedeutete nichts mehr, Gesichter verschwammen. Ich vergaß Worte. Längerer Schlafmangel fühlt sich an, als habe man eine Droge bekommen, deren Wirkung so schrecklich ist, dass niemand sie freiwillig nehmen würde.
    In der vierten Nacht wurde der nasse Zement, der meine Augenlider bedeckte und meinen Schädel füllte, schließlich stärker als das Adrenalin. Ich legte mich hin und wurde sofort durch mein Bett ins Zentrum des Planeten gesaugt, wo mein Gehirn endlich die Gedanken freiließ, die ich tagsüber nicht zu denken wagte. Zuerst kam es mir vor, als sei ich gar nicht eingeschlafen, da mein Traum damit begann, dass ich wach in meinem Bett lag. Ich stand auf, um aufs Klo zu gehen, und sah in der Badewanne einen nassen wirren Klumpen von Ninas frisch blau gefärbtem Haar liegen. Mich durchströmte eine so intensive Erleichterung, dass ich beinahe zu Boden sank, denn dies bedeutete, dass Nina hier
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