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Morgen wirst du sterben

Morgen wirst du sterben

Titel: Morgen wirst du sterben
Autoren: Gina Mayer
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Tasche zu Boden fallen. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und schloss die Augen. Geschafft.
    Durch ihre Lider flirrten rötlich die Sonnenstrahlen. Die Wohnung roch nach frischer Farbe und Putzmittel mit Zitronenduft und Staub. Ihre Wohnung. Ihre erste eigene Wohnung.
    Gestern waren ihre Möbel aus Lohbrügge nach Ottensen gebracht worden. Vier Fahrten mit Joes kleinem Lieferwagen. Ein Schrank, ein Schreibtisch, ihre breite Matratze. Bücherregale. Die Anlage. Ein paar Kisten mit Büchern, Klamotten, Geschirr. Das war’s. Mehr besaß sie nicht. Mehr brauchte sie nicht. Jetzt war ihr ganzes Hab und Gut hier und sie war hier und alles war gut.
    »Die ersten Nächte werden wahrscheinlich ganz schön hart«, hatte Esther zu ihr gesagt, als sie sich vorhin von ihr verabschiedet hatte. »Zum ersten Mal so ganz allein.«
    So ein Quatsch, dachte Julie jetzt. Hart war das, was hinter ihr lag. Die letzten achtzehn Jahre. Das Leben mit Marianne, ihrer überdrehten Mutter, die ständig von einer Laune in die andere fiel, die mittags drei Kilo frischen Lachs kaufte und ihn abends in den Müll warf, weil sie Fisch nicht riechen konnte. Die den Flur in einer Woche hellgrün, rosa und gelb strich und dann einen Maler bestellte, der alles wieder weiß tapezierte. Die allen Bekannten, Nachbarn, Freunden mit ihrem Comeback auf die Nerven ging. »Ich komm ganz groß raus«, sagte sie. »Mein Agent ist sooo zuversichtlich.«
    Ende der Neunziger hatte Marianne bei einem Independent-Label eine CD aufgenommen. Ihr Song »Paranoia« hielt sich eine Woche lang in den Top 100 der deutschen Charts. Sie hatte Gigs in vielen Hamburger Clubs, ein paarmal war sie auch in Berlin, Bremen und Osnabrück aufgetreten. Auf ihrer Tournee  – wie sie die Städtetrips großspurig nannte – war sie schwanger geworden. Julie hatte den Schlussstrich unter ihre Karriere gezogen. Das verkündete sie jedem, der es wissen wollte, und denen, die es nicht wissen wollten, erzählte sie es auch.
    »Das Music-Business ist knallhart«, erklärte sie. »Als alleinerziehende Mutter hast du da keine Schnitte. Da bist du sofort raus, so was von raus.«
    Hauptsache, du hast eine Entschuldigung, dachte Julie.
    Sie öffnete die Augen wieder und atmete tief durch. Vorbei. Die Lebenslügen und Ausflüchte ihrer Mutter. Ihre Zicken und Allüren und Launen. Das alles ist nicht mehr mein Bier, dachte Julie.
    Sie war frei. Ab dem Wintersemester hatte sie einen Studienplatz an der Hamburger Schauspielschule. Und obwohl es bis dahin noch mehr als drei Monate waren, hatte sie jetzt schon eine Wohnung in Ottensen angemietet.
    » BAföG gibt es doch erst ab September«, hatte Marianne gesagt. »Wie willst du denn bis dahin die Miete zahlen?«
    »Indem ich Geld verdiene«, hatte Julie entgegnet. »Das ist ein irres Konzept, Mama. Man geht arbeiten und bekommt dafür Kohle und davon bestreitet man seinen Lebensunterhalt.« Danach war sie ausgezogen.
    Und nun war sie hier. Durch die hohen Fenster fiel Sonnenlicht auf die Schachteln und Kisten, die sie gestern an der Wand entlang aufgestapelt hatten. In einem der Umzugskartons musste die alte Kristallvase ihrer Oma sein. Julie hatte die Seitenwände der Kisten mit Edding beschriftet. Bücher, CD s, Badezimmerkram, Geschirr.
    Der Karton mit dem Geschirr stand natürlich ganz unten. Sie wuchtete die anderen Kisten zur Seite und kramte die Vase aus der Schachtel. Holte Wasser, entfernte das Papier von den Ringelblumen, die sie auf dem Markt gekauft hatte, stellte die Blumen in die Vase und die Vase auf den Schreibtisch neben ihren Laptop. Und die Sonne fiel genau auf die gelben Ringelblumenblüten, brachte sie zum Leuchten und brach sich in den Facetten der Kristallvase.
    So schön, dachte Julie.
    Sie machte sich eine Tasse Nescafé mit H-Milch und stellte sich damit auf den Balkon, der eigentlich kein Balkon war, sondern nur ein winziger Vorsprung hinter den Fenstertüren der Küche. Sie würde Blumenkästen am Gitter anbringen und Geranien pflanzen, dachte sie. Spießerblumen, hörte sie ihre Mutter sagen.
    »Halt du dich da raus«, murmelte Julie.
    Im Moment stand allerdings nur ein zersprungener Unterteller mit ausgedrückten Kippen auf dem Boden. Angewidert kippte Julie die Zigarettenstummel in den Müllsack, der an der Küchentür hing. Danach wanderte ihr Blick durch den leeren Raum. Morgen sollte die Küchenzeile geliefert werden. Und wenn sie erst mal aufgebaut und installiert war, würde sie jeden Abend kochen. Nie
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