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Morgen wirst du sterben

Morgen wirst du sterben

Titel: Morgen wirst du sterben
Autoren: Gina Mayer
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1
    Marilyn Monroe hatte Kleidergröße 42.
    Das war der Satz, der Sophia am Leben hielt. Ihr Mantra. Wenn es ihr ganz besonders schlecht ging, murmelte sie ihn leise vor sich hin.
    So wie heute. Heute war Montag. Montags ging es ihr immer schlecht. Montags hatte sie in den ersten beiden Stunden Sport und vor dem Sportunterricht musste man in die Umkleidekabine.
    Raus aus den Klamotten. Das war das Schlimmste. In Sophias Volleyballkurs waren zwanzig andere Mädchen und alle hatten Größe 36, bis auf Britta, die passte in 32. Und Sophia natürlich. Sophia mit Kleidergröße 42 wie Marilyn.
    42. Das galt heute bereits als Übergröße. Wer Größe 42 trug, war fett. Aber Marilyn, die Göttin, das Sexsymbol schlechthin, war nicht fett gewesen, sondern perfekt. Leider waren diese Zeiten vorbei. Genau wie das Schönheitsideal. Und Marilyn war tot.
    Sophia schob die Jeans nach unten. Unglücklicherweise glitt die Hose nicht einfach von ihren Hüften wie die Röhrenjeans, die Luzie neben ihr fallen ließ. Sophia musste ihre Hose von Oberschenkeln und Waden pellen wie die Haut von einer Weißwurst.
    Luzie zog jetzt ihr T-Shirt über den Kopf und warf es über den Garderobenhaken. Erst dann wühlte sie in ihrer Tasche nach dem Sporthemd. Sie trug nur ihren weißen BH und den Slip. Trotzdem ließ sie sich beim Suchen alle Zeit der Welt. Und sie konnte sich auch alle Zeit der Welt lassen, denn ihr Körper war straff und braun gebrannt und unglaublich schlank.
    Bei Sophia sah die Sache dagegen ganz anders aus. Bei ihr war Eile angesagt. Raus aus den Jeans. Rein in die Jogginghose, so schnell, dass die anderen ihre wabbeligen, weißen Beine gar nicht zu Gesicht bekamen.
    »Fertig?«, fragte Emily.
    »Sekunde noch«, sagte Sophia und zerrte ihre Trainingsjacke aus dem Sportbeutel. Dann wurde sie rot, weil sie merkte, dass Emily gar nicht mit ihr gesprochen hatte, sondern mit Luzie. Klar. Die Zeiten, in denen Emily auf sie gewartet hatte, waren vorbei.
    »Fertig.« Nun beeilte Luzie sich doch. Sie zog sich um, schnappte ihre Wasserflasche und rannte mit Emily in die Halle, ohne sich nach Sophia umzusehen.
    »Marilyn Monroe hatte Kleidergröße 42«, murmelte Sophia. Und schreckte zusammen, als hinter ihr jemand lachte.
    Britta.
    Britta war klein, dünn und picklig und trug eine Zahnspange, obwohl sie schon sechzehn war. Seit der Fünften versuchte sie sich mit Sophia anzufreunden. Aber das Letzte, was Sophia brauchte, war eine Freundin, die noch uncooler war als sie selbst.
    »Das ist ein Mythos«, sagte Britta.
    »Was?«, fragte Sophia.
    »Dass Marilyn Größe 42 hatte. Stimmt nicht. Sie hatte 38.«
    »Quatsch«, sagte Sophia unsicher.
    »38 ist schon der Hammer. Ich meine – für eine Schauspielerin. Das wär heute unvorstellbar. Voll fett«, sagte Britta und ließ Sophia einfach stehen.
    Das war die Retourkutsche dafür, dass Sophia sie nicht zu ihrem Geburtstag eingeladen hatte. Aber das machte die Sache nicht besser. Marilyn Monroe hatte Kleidergröße 38.
    Aus der Turnhalle gellte Herrn Baumgarts Trillerpfeife. Kunststoffsohlen quietschten auf dem Hallenboden. Sophia hätte am liebsten geweint.
    Nach Sport kam die große Pause. Danach Physik. Das war ätzend, aber zumindest musste man sich dafür nicht ausziehen.
    Sophia hastete sofort aus der Turnhalle, den Sportbeutel unter dem einen, ihre Schultasche unter dem anderen Arm. Sie fühlte sich abscheulich, wie immer nach Sport, weil sie sich hinterher nicht richtig wusch, sondern sich nur den Schweiß vom Oberkörper rieb. Deo unter die Achseln, fertig.
    Bloß nicht in den Spiegel schauen. Bloß raus hier. Mit gesenktem Kopf rannte sie über den Schulhof.
    »Sophia?«
    Sie hielt inne, blickte sich suchend um und sah in fremde Gesichter.
    »Du bist doch Sophia Rothe?« Ein junger Mann näherte sich ihr, ein ziemlich gut aussehender junger Mann, der ihr bekannt vorkam. Aber woher sie ihn kannte, fiel ihr nicht ein.
    »Was gibt’s denn?«
    »Felix. Ich bin mit deinem Bruder befreundet. Wir haben uns neulich beim Badminton kennengelernt.«
    Ja, richtig. Felix. Der neue Badmintonpartner ihres Bruders. Beim Turnier am vergangenen Wochenende hatte er im Finale gegen Moritz gespielt. Moritz hatte gewonnen. Natürlich hatte er gewonnen. Moritz gewann immer.
    »Wo ist er denn?«, fragte Felix.
    »Wer?«
    »Dein Bruder.«
    »Keine Ahnung. Zu Hause vermutlich.«
    »Zu Hause? Aber … er geht doch hier zur Schule. Hat er mir am Sonntag noch erzählt.«
    »Er ging hier zur
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