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Morgen wirst du sterben

Morgen wirst du sterben

Titel: Morgen wirst du sterben
Autoren: Gina Mayer
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er über ein Schmuckstück, das man von Generation zu Generation weitervererbte.
    »Warst du aufgeregt?«, fragte seine Mutter.
    Aber Moritz war vor Prüfungen die Ruhe selbst. Warum sollte er sich auch aufregen? Seit der Grundschule schrieb er praktisch ununterbrochen Einsen.
    »Moritz, hallo?« Herr Rothe beugte sich nach vorn und versuchte seinem Sohn in die Augen zu blicken. Aber das ging nicht, weil Moritz wie hypnotisiert auf das Spiegelei auf seinem Teller starrte.
    »Was ist los mit ihm?«, wandte Herr Rothe sich nun an Sophia. Aber genauso gut hätte er das Spiegelei fragen können. Sophia hatte nun wirklich keinen blassen Schimmer, warum Moritz seine mündliche Abiturprüfung verpatzt hatte. Sie und ihr Bruder waren zwei Welten, zwei unterschiedliche Sonnensysteme. Alle paar Lichtjahre ging eine Nachricht von einer Welt zur anderen.
    »Hast du mein Handyladekabel gesehen?«
    »Nö.«
    »Kann ich deines ausleihen?«
    »Wenn du es irgendwo findest.«
    Danach herrschte wieder Funkstille.
    »Haben dich die Prüfer fertiggemacht?«, fragte Frau Rothe behutsam.
    »Es gibt ja ein Protokoll«, sagte Herr Rothe. »Wenn man dich unfair behandelt hat, muss die Prüfung wiederholt werden.«
    Moritz schüttelte nur den Kopf und schob seinen Teller von sich.
    »Na, eigentlich müsste es allen klar sein, dass man die Prüfung nicht werten kann. In den letzten Jahren hattest du immer einen glatten Einserschnitt.«
    »Es war alles korrekt«, sagte Moritz. Seine Stimme klang heiser, als ob er krank wäre.
    »Wie meinst du das?«, fragte sein Vater.
    »Ich hatte einen Blackout. So was gibt’s.«
    »Aber warum denn? Hat dich dieser bescheuerte Numerus clausus verrückt gemacht? Na, hör mal, du hast doch alles andere spielend hinter dich gebracht.«
    »Wie wirkt sich das Ganze denn auf die Endnote aus?«, erkundigte sich Frau Rothe.
    Moritz hob den Kopf, aber er sah seine Eltern immer noch nicht an, er blickte durch sie hindurch. Sein Gesicht war sehr bleich und seine Augen glänzten.
    »Moritz«, sagte Herr Rothe erschrocken. »Was ist denn los mit dir?«
    »Nichts.« Moritz schob seinen Stuhl zurück und stand abrupt auf. »Ich hab keinen Hunger, sorry.« Und dann verschwand er einfach.
    Sophias großer Bruder Moritz. Wo immer Sophia hinging, er war schon da. Und leuchtete ihr den Weg, ein strahlendes Vorbild.
    »Deinen Bruder hab ich auch schon unterrichtet«, erklärten die Lehrer jedes Mal zu Beginn eines neuen Schuljahres mit glänzenden Augen, wenn sie Sophias Nachnamen im Klassenbuch lasen.
    »Ach, du bist die Schwester von Moritz?«, fragte der Badmintontrainer. »Ein toller Spieler.«
    Sogar der Zahnarzt kannte Moritz und schwärmte Sophia von seinen gesunden Zähnen vor.
    »Von dem kannst du dir ruhig eine Scheibe abschneiden«, sagten alle. Natürlich nicht wörtlich. Schließlich wusste jeder, dass man Geschwister nicht vergleichen soll. Aber ihre Gesichter sagten es. Und ihre enttäuschten Bemerkungen, nachdem sie Sophia ein bisschen besser kennengelernt hatten.
    »Ihr seid ja wirklich total unterschiedlich, du und dein Bruder.«
    »Sind wir auch«, sagte Sophia dann immer.
    Alle Welt liebte ihren Bruder, nur sie mochte ihn nicht besonders. Wenn er weg wäre, wäre es einfacher für mich, dachte sie oft. Und freute sich auf den Tag, an dem er endlich auszog, um zu studieren.
    Nachdem sie Felix kennengelernt hatte, bedauerte Sophia allerdings, dass sie und Moritz so wenig verband. Wenn sie sich besser verstanden hätten, hätte sie Moritz über Felix ausquetschen können. Sie wollte alles über ihn wissen. Woher Moritz und Felix sich kannten, ob sie nur Badmintonpartner waren oder auch Freunde. Wo Felix wohnte, was er gerne aß, ob er wirklich sieben Geschwister hatte und was er außer Badminton noch so machte. Ob er eine Freundin hatte. Das interessierte sie natürlich am meisten.
    Aber so wie die Dinge zwischen ihnen standen, hatte es überhaupt keinen Sinn, Moritz auszufragen. Er würde nur verächtlich grinsen. Vergiss ihn, Sophia, der ist echt eine Nummer zu groß für dich. Oder vielmehr zu klein. Bei deinem Umfang.
    Felix. Felix. Felix. Felix. Sie konnte an nichts anderes mehr denken. Ruf mich an, dachte sie sehnsüchtig. Bitte, melde dich! Auch wenn du nichts für mich empfindest. Wir können Freunde werden. Solange ich nur in deiner Nähe sein kann.
    Sie zog ihr Handy aus der Tasche. Keine neuen Nachrichten, kein verpasster Anruf. Felix kannte ihre Handynummer nicht, aber er hätte Moritz danach fragen
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