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Mord in Mesopotamien

Mord in Mesopotamien

Titel: Mord in Mesopotamien
Autoren: Agatha Christie
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zu meiner Überraschung gründlich auszufragen. Ich war erstaunt, denn vom ersten Augenblick an hatte ich Mrs Leidner für eine Dame gehalten, und nach meinen Erfahrungen zeigen Damen selten Neugierde für das Privatleben ihrer Mitmenschen.
    Doch Mrs Leidner schien unbedingt alles über mich wissen zu wollen: Was für eine Ausbildung ich gehabt habe, wo und wie lange. Wieso ich in den Orient gekommen sei. Warum Dr. Reilly mich empfohlen habe. Sie fragte mich sogar, ob ich schon einmal in Amerika gewesen sei oder Verwandte dort habe. Sie stellte noch ein paar Fragen, die mir damals völlig unwichtig erschienen, deren Bedeutung ich aber später erkannte. Dann änderte sie plötzlich ihr Verhalten. Sie lächelte reizend und sagte, wie froh sie wäre, dass ich da sei, und dass sie überzeugt sei, ich könne ihr sehr viel helfen.
    Schließlich stand sie auf und fragte: «Hätten Sie Lust, mit aufs Dach zu kommen und sich den Sonnenuntergang anzusehen? Es ist meist wunderschön.»
    Ich stimmte zu, und beim Hinausgehen erkundigte sie sich: «Waren viele Leute im Zug von Bagdad hierher? Männer?»
    Ich sagte, dass ich niemand besonderen bemerkt hatte.
    Wieder nickte sie und seufzte leicht, es schien ein Seufzer der Erleichterung zu sein.
    Auf dem Dach saß Mrs Mercado am Geländer, und Doktor Leidner beschäftigte sich mit Steinen und zerbrochenen Tongeräten, die in Reihen ausgebreitet lagen. Da gab es große runde Steinbrocken, die er als Getreide-Handmühlen bezeichnete, und Mörser, Steinäxte und Tonscherben mit seltsamen Mustern, wie ich sie noch nie gesehen hatte.
    «Kommen Sie hierher», rief Mrs Mercado. «Ist das nicht entzückend, zauberhaft?»
    Es war wirklich ein herrlicher Sonnenuntergang. Hassanieh sah im Schein der untergehenden Sonne richtig märchenhaft aus, und der Tigris erschien mir wie ein Traumfluss.
    «Ist es nicht wunderbar, Eric?», fragte Mrs Leidner.
    Ihr Mann blickte zerstreut auf, murmelte flüchtig: «Wunderbar, wunderbar», und sortierte dann wieder seine Steine und Scherben.
    Lächelnd sagte sie: «Archäologen sehen nur das, was unter ihren Füßen liegt. Himmel und Horizont existieren nicht für sie.»
    Mrs Mercado kicherte. «Ja, Archäologen sind wirklich merkwürdige Menschen. Sie werden das auch bald herausfinden, Schwester.» Sie machte eine Pause und fügte dann hinzu: «Wir sind ja so froh, dass Sie gekommen sind. Wir machen uns alle solche Sorgen um unsere liebe Mrs Leidner, nicht wahr, Louise?»
    «So?» Mrs Leidners Stimme klang nicht ermutigend.
    «Natürlich. Es ging ihr wirklich sehr schlecht, Schwester. Es gab soviel Aufregungen und Ausflüge. Wenn zu mir jemand sagt: ‹Ach, es sind nur die Nerven›, sage ich immer: ‹Was kann es denn Schlimmeres geben? Nerven sind der Kern, das Zentrum des Menschen.› Stimmt es nicht?»
    Schlange, dachte ich bei mir.
    Mrs Leidner entgegnete trocken: «Sie brauchen sich jetzt meinetwegen keine Sorgen mehr zu machen, Marie, die Schwester kümmert sich um mich.»
    «Ich bin sicher, dass sich nun alles ändert», fuhr Mrs Mercado fort. «Wir waren alle der Ansicht, dass sie einen Arzt oder so etwas Ähnliches braucht. Ihre Nerven waren doch wirklich sehr angegriffen, nicht wahr, liebe Louise?»
    «So sehr, dass ich Ihnen anscheinend auf die Nerven gegangen bin», erwiderte Mrs Leidner. «Aber wollen wir jetzt nicht über etwas Interessanteres sprechen als über meine elende Gesundheit?»
    Ich erkannte damals, dass Mrs Leidner zu den Frauen gehörte, die sich leicht Feinde machen. Ihr Ton war so kalt (ich konnte es ihr in diesem Fall nicht verdenken), dass Mrs Mercados bleiches Gesicht rot anlief. Sie stammelte etwas, doch Mrs Leidner war bereits aufgestanden und zu ihrem Mann am anderen Ende des Daches gegangen. Ich glaube, er hörte sie nicht kommen; erst als sie die Hand auf seine Schulter legte, blickte er auf und sah sie liebevoll und fragend an.
    Sie schob ihren Arm unter den seinen, und zusammen gingen sie die Treppe hinunter.
    «Er betet sie an», sagte Mrs Mercado.
    «Ja, es ist schön, das zu sehen.»
    Sie blickte mich von der Seite an. «Was glauben Sie wirklich, dass mit ihr los ist, Schwester?», fragte sie, die Stimme senkend.
    «Ich glaube, nichts Besonderes», antwortete ich freundlich, «wahrscheinlich ist sie einfach ein bisschen erschöpft.»
    Ihre Augen durchbohrten mich fast. Dann fragte sie unvermittelt: «Sind Sie eine Schwester für Nervenkranke?»
    «Um Gottes willen, nein. Wie kommen Sie darauf?»
    Sie schwieg einen
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