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Mord Im Kloster

Mord Im Kloster

Titel: Mord Im Kloster
Autoren: Philipp Espen
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gelingen.«
    »Dafür bin ich nicht angestellt, Herr! Das bleibt für die hohen Herren, die in Büchern lesen und auf Samtsesseln sitzen«, erwiderte der Zwerg listig.
    »Vorsicht, Giacomo! In unseren Zeiten kann ein solcher Satz schon ausreichen, um geradewegs auf die Streckbank geworfen zu werden, wie du am besten weißt! Aber gut, wir haben ja keine Zuhörer – einer der Vorteile dieses Tempels. Ich werde bis zur Visite im Krankensaal hinüber in den Garten gehen. Zwanzig Runden dürften reichen. Dann weiß ich, warum diese Melodie in meinem Kopf an meine tiefste Seele rührt. Du passt inzwischen auf den Brief auf, als gelte es dein Leben. Du weißt, niemand darf ihn zu Gesicht bekommen, bis ich ihn an seinen Empfänger abliefere.«
    »Zu dienen«, murmelte der Zwerg und krümmte sich wie unter Schmerzen.
    Der junge Tempelmedicus hatte sanft und langsam gesprochen, aber jetzt durchquerte er den kargen, weiß getünchten Raum schnell wie ein geübter Läufer. Als er die Treppenstufen genommen hatte – auf jeder Stufe hinunter schien es etwas weniger kühl zu sein –, die Pforte durchquerte und in den menschenleeren Garten des Tempels zu London trat, setzte er seine Füße auf, als wolle er die Festigkeit der roh behauenen, aber glatt geschliffenen Sandsteine testen. Er raffte seinen leichten, weißen Rock und spürte die Kühle an den nackten Beinen und Füßen, die in Sandalen steckten. Mit wiegendem, geschmeidigem Gang drehte er die erste Runde. In der zwölften wusste er plötzlich, woher er das Lied noch kannte.
    Seltsames Ding! Er hatte es in den Kellern eines Gerichtes gehört, dem er in seiner Ausbildungszeit am römischen Tiber oft als Medicus zur Hand gehen musste. Dort hatte es jemand mit fester Stimme gesungen, bis diese brach. Darüber hatten das Stöhnen der anderen Häftlinge in Ketten gelegen und der Geruch nach hinfälligem Fleisch.
    Aber die Schöpfung? Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. An diesem Ort der Folter, zu dieser Stunde war sie nicht zu spüren gewesen. Das Erschrecken vor ihrer völligen Abwesenheit ließ ihn später umso mehr danach suchen. Allein deshalb, das war klar, war er ein gläubiger Mensch geworden und in den Tempel eingetreten, obwohl seine Lehrer ihm sagten, dass er den sezierenden Verstand des Chirurgen besaß und dass es seine Aufgabe sei, die Menschen von den Schmerzen zu befreien.
    Neville of Gwyn brach seine Runden ab, stand einen Augenblick lang unbeweglich da, versunken in den Anblick von vier afrikanischen Löwen aus rotem Sandstein, die den leise sprudelnden Brunnen im Innenhof schmückten, und kehrte in das kleine Arbeitszimmer zurück. Auf dem Weg dorthin überlegte er, welche Anweisungen er dem Zwerg geben wollte, der ständig beschäftigt werden musste, damit er keinen Unsinn anstellte. Der Magister spürte Mitleid mit dem Krüppel, der so viel Unrecht erlitten hatte.
    Neville of Gwyn sperrte die Tür des spärlich möblierten Raumes auf, und sofort überfiel ihn ein heftiges Unbehagen. Unwillig blickte er um sich. Irgendetwas hatte sich inzwischen verändert. Er bemerkte nicht auf den ersten Blick, was es war, aber auf den zweiten desto genauer. Und er erschrak.
    Das Schreibpult in der Ecke war leer gefegt, die Papiere lagen sämtlich auf dem kalten Steinfußboden. Und der Zwerg?
    »Giacomo!« Keine Antwort. »Zum…!« Wo war der Kerl? »Giacomo!«
    Neville ging schnell in die Knie und wühlte in den Pergamentblättern. Über einige hatte sich Tinte geleert, andere waren zerknüllt. Auf einem Büttenpapier mit dem Siegel des Londoner Tempels lag eine rote, klebrige Masse. Der Brief des Abtes von St. Albans war verschwunden.
    Neville gab die Suche schnell auf. Und er machte sich Vorwürfe. Jemand hatte die Zeit seiner Abwesenheit gründlich genutzt. Warum um Himmels willen hatte er den Brief nicht sofort an Henri de Roslin ausgehändigt? Er hätte unter allen Umständen Zutritt zu seiner Klausur erzwingen müssen. Wenn doch nur nicht so viel davon abhing.
    »Giacomo!«
    Er konnte nicht weit sein. Sicher war er beim Eindringen des Unbekannten sofort ängstlich davongelaufen, ohne an Gegenwehr zu denken und die Abschrift zu verteidigen. Jetzt hockte er womöglich wimmernd unter den Betten im Schlafsaal.
    Neville rannte hinüber, die Treppen hinunter, hinter dem Klausursaal wieder hoch und betrat den von fünfundzwanzig Säulen getragenen, tagsüber verlassenen Schlafsaal der einfachen Brüder.
    »Giacomo?«
    Er ging den lang gestreckten Saal entlang, an
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