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Moorseelen

Moorseelen

Titel: Moorseelen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Gastfamilie und damit meine
»american
sister«
ganz vornedran. Danach hatte ich genug und setzte durch, dass
ich das Rückflugticket umbuchen konnte – auf den nächsten Tag. In der Nacht vor
Heiligabend landete ich wieder in Berlin und beinahe hätte mein Vater es
versäumt, mich abzuholen, weil er wahrscheinlich für seine Neue den freigiebigen
Santa Claus spielte. Nach den Ferien tauchte ich an meiner alten Schule auf und
wehrte alle neugierigen Fragen meiner ehemaligen Mitschüler mit dem Satz
»Amerika ist total abgefuckt« ab. In meine alte Klasse konnte ich sowieso nicht
zurück, dafür hatte ich im Gymnasium zu viel Stoff versäumt. Außerdem stand ich
schon vor dem Schüleraustausch in Mathe, Physik und Latein auf der Kippe, sodass
ich das Schuljahr nun endgültig wiederholen musste. Zu dem verbockten USA -Aufenthalt kamen also jetzt noch 29 neue Gesichter
hinzu. Wenigstens lief ich auf diese Weise nicht mehr dauernd Timo über den Weg.
Seit unserer Trennung kurz vor meinem Abflug war ich nicht mehr scharf drauf,
ihm jeden Tag im Klassenzimmer zu begegnen und sein demonstratives Wegsehen und
die extralauten Gespräche mit seinen Kumpels, sobald er meiner ansichtig wurde,
mitzubekommen. In den USA , so hatte ich gehofft,
könnte ich den ganzen Beziehungskram hinter mir lassen und ein neues Leben
anfangen. Der Schuss war gründlich nach hinten losgegangen. Mein neues Leben war
genauso beschissen wie das alte.
    Sowieso war es eine Schnapsidee gewesen, mich auf diesen
Schüleraustausch einzulassen. Als könnte Amerika mich vergessen lassen, was
passiert war, und als würden siebeneinhalbtausend Kilometer Entfernung reichen,
damit meine Trauer in Berlin zurückblieb.
    »Dir wäre es natürlich lieber gewesen, du hättest mich für
ein Jahr von der Backe gehabt«, schleuderte ich meinem Vater entgegen. Prompt
verzog mein Erzeuger das Gesicht. Volltreffer.
    »Ach, Feline …«, sagte er nur und guckte wie ein Hund, der
gerade ungerechtfertigt einen Tritt kassiert hat.
    Ich sah meinen Vater an und überlegte, wer von uns beiden
sich so verändert hatte, dass wir nicht mehr miteinander reden konnten. Aber
vielleicht war es schon immer so gewesen und wir hatten es nur nicht bemerkt.
Weil meine Mutter das Band gewesen war, das uns verbunden hatte. Ohne sie waren
wir verstummt. Ich erinnerte mich an den verzweifelten, fast schmerzhaften
Druck, mit dem mein Vater meine Hand umklammert hatte, nachdem ihr Sarg mit
einem leisen Surren hinter der eisernen Tür des Krematoriums verschwunden war.
Kurz darauf sollten die über tausend Grad heißen Flammen nichts als eine
Handvoll Asche und Knochensplitter von ihr übrig lassen. Mit Tränen in den Augen
nahm mein Vater die Beileidsbekundungen von Freunden und Verwandten entgegen,
während ich wie eine Eisskulptur starr und unbeweglich neben ihm stand. Ich
weinte mit allen Fasern meiner Seele, aber kein Wort, keine Träne kamen aus mir
heraus. Noch drei Tage später tat mein Kiefer weh, so heftig hatte ich am Grab
die Zähne zusammengebissen.
    Keine vier Monate nach Mamas Beerdigung kam ich ins
Wohnzimmer, und da saß der trauernde Witwer und ließ den Champagnerkorken
knallen. Neben ihm – so dicht, dass sich ihre Oberschenkel berührten – thronte
seine blondierte, 17 Jahre jüngere Sekretärin mit Jeansgröße 28, die mit einem
albernen Kleinmädchengekicher die schaumige Fontäne des 80-Euro-teueren Gesöffs
kommentierte, die aus der Flasche schoss. Als sie mich in der Tür entdeckte,
blieb ihr das dämliche Gegacker im Hals stecken. Obwohl mir mein Vater ein
schwaches »Feline« nachschickte, drehte ich mich nicht mehr um, sondern ging
wortlos in mein Zimmer, wo ich die Tür zusperrte. In diesem Moment ging etwas
tief in mir kaputt, wie eine Uhr, die einfach stehen bleibt. Da unten saß mein
Vater und tat so, als hätte es meine Mutter nie gegeben. Einfach so löschte er
den Tag aus dem Kalender, der alles verändert und mein Leben in tausend Splitter
hatte zerspringen lassen: Es war kurz nach Fasching gewesen und ich war mit
einer dicken Erkältung von der Schule zu Hause geblieben. Mein Vater hatte im
»Homeoffice« gearbeitet, wie er seinen wackligen Schreibtisch und das keuchende
Laptop gerne nannte. Also war von unserer Familie nur meine Mutter Richtung
Wedding gestartet: Sie wollte ihre erste Klasse, die sie unterrichtete, nicht im
Stich lassen. Eine Stunde später klingelte es. Mein Vater und ich erreichten
gleichzeitig die Haustür, vor der zwei Polizisten
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