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Moorseelen

Moorseelen

Titel: Moorseelen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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standen. Der eine Beamte
starrte zu Boden, wobei er seine Dienstmütze in beiden Händen knetete. Der
Zweite konnte mir nicht in die Augen sehen, sondern wandte sich betont sachlich
an meinen Vater.
    »Sind Sie der Ehemann von Barbara Tauber? Ihre Frau hatte
einen Autounfall …«
    Ich weiß nicht mehr, was mein Vater erwiderte oder wie ich
ins Krankenhaus kam. Das Nächste, an das ich mich erinnerte, ist ein weißes
Zimmer, mit kahlen Wänden. Bis auf ein schmales, hohes Bett war der Raum völlig
kahl. Weiße Bettwäsche. Weiß auch das Gesicht, das dort auf dem Kissen lag, das
Gesicht meiner Mutter. Ihre Züge waren mir fremd, so starr und wie gemeißelt.
Sie war zu einer Wachsfigur geworden. Erst im letzten Sommer war ich mit meinen
Eltern im Kabinett von Madame Tussaud in London gewesen. Damals glaubte ich
noch, wir wären eine glückliche Familie und das würde immer so bleiben. Lachend
hatten meine Mutter und ich neben den Figuren von Marilyn Monroe und Barack
Obama posiert, die dort standen, für immer erstarrt und mit einem ewigen Lächeln
in den wächsernen Gesichtern.
    Meine Mutter dort in dem weißen Bett lächelte nicht. Ernst
und in sich gekehrt sah sie aus, schlafend und ganz und gar auf ihren Traum
konzentriert. Ihre Brust hob und senkte sich regelmäßig. Sie atmete! Eine Woge
der Erleichterung durchflutete mich und brachte die Angst, die mein Herz mit
einer dünnen Frostschicht überzog, zum Schmelzen. Bis ich die Apparate wahrnahm
und den Schlauch, der von dort zu ihrem Hals führte und irgendwo zwischen
Nachthemd und Bettdecke verschwand. Nun hörte ich auch das zischende Geräusch,
das nicht von meiner Mutter, sondern von dem blinkenden Gerät neben ihr kam. Da
begriff ich, dass die Maschine für sie atmete. Und dass meine Mutter nicht mehr
da war. Nur ihr Herz wurde noch künstlich am Schlagen gehalten. Die moderne
Medizin hatte es tatsächlich geschafft, mich ein paar Sekunden lang an Wunder
glauben zu lassen und daran, in ein paar Wochen meine Mutter wieder zu Hause zu
sehen. Außer ein paar Pflastern und einem Gips würde nichts mehr an den
plötzlichen Eisregen erinnern, der innerhalb von Sekunden die Nässe auf der
Straße hatte gefrieren lassen. Von einem Moment auf den anderen gehorchten die
Räder nicht mehr, sondern zogen sie auf der spiegelglatten Fläche unaufhaltsam
nach links, bis der Wagen die Leitplanke durchbrach und frontal in einen
entgegenkommenden Sattelzug krachte. Der Lkw-Fahrer wurde aus dem Graben
gefischt und kam mit einem Schock ins Krankenhaus. Für meine Mutter riefen sie
einen Hubschrauber. Später erfuhr ich, dass ihr Herz aufhörte zu schlagen,
während die Rotorblätter in zweitausend Metern Höhe die dichte graue Wolkendecke
durchbrachen. Ich habe immer gehofft, dass sie noch einmal, wenigstens eine
Sekunde lang, diesen vergissmeinnichtblauen Himmel gesehen hat, der zum Greifen
nah war und den Frühling versprach, ehe die Dunkelheit des Todes über sie
herfiel.
    Als ich ein paar Monate später im Flieger von Amerika nach
Hause saß und den Himmel mit einzelnen Wolken, so weiß und durchsichtig wie
brüchige Spitze durch das kleine Guckfenster sah, musste ich an den Moment
denken, in dem ich in der Klinik ein letztes Mal nach der Hand meiner Mutter
gegriffen hatte. Stumm hatte ich ihre schmalen Finger mit den kurz gefeilten,
ovalen Nägeln betrachtet, die mir so vertraut waren. Sie sahen jetzt so fremd
aus, wie sie da kühl in meiner eigenen lebendigen Hand lagen. Trotzdem
umklammerte ich sie verzweifelt in der Hoffnung, doch noch eine Reaktion von ihr
zu spüren. Doch es kam nichts. Kein Druck, der mir signalisierte, dass alles in
Ordnung war und ich mir keine Sorgen machen musste. Meine Mutter war fort, an
irgendeinen Ort, an den ich ihr nicht folgen konnte. Ich machte mir keine
Illusionen, sie wäre irgendwo im Himmel und beobachtete mich von einer Wolke
aus. Trotzdem fühlte ich mich ihr im Flugzeug plötzlich sehr nahe. Hier oben
schien die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten für einen winzigen
Augenblick aufgehoben. Diese Illusion hielt leider nur kurz an. Als ich im
regnerischen Berlin landete und mein Vater die Wohnungstür aufschloss, standen
spitze Sekretärinnen-Slingpumps im Flur und es roch nach einem fremden Parfum:
Seine Neue hatte keine Zeit verloren und war drei Wochen nach Beginn meines
Schüleraustausches bei uns eingezogen.
    »Und Melanie hast du von Anfang an keine
Chance gegeben«, fuhr mein Vater nahtlos in seinem Lamento fort, als
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