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Moorseelen

Moorseelen

Titel: Moorseelen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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geblieben. Kurz nach seiner Facebook-Nachricht hatte ich mein Profil gelöscht, weil ich gemerkt hatte, dass Nicks Nachricht die erste seit einem halben Jahr war. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich eines gelernt: Unglück wirkt wie eine ansteckende Krankheit. Plötzlich wurde ich sogar von alten Freunden gemieden. Anfangs nahm ich es gar nicht wahr, denn verständlicherweise hatte ich keine Lust, zu Partys zu gehen oder bei Schulfesten zu erscheinen. Dass ich aber überhaupt nicht mehr gefragt wurde, fiel mir erst auf, nachdem die ganze Klasse bei Alina, unserer Schulsprecherin, auf eine Riesenfete eingeladen war – nur ich nicht. Trotzdem verdrängte ich es, bis ich beim Surfen zufällig beim Profil meiner Banknachbarin landete und an ihrer Pinnwand Fotos von der Party fand. Noch am selben Abend deaktivierte ich meinen Account. Ich wollte mit keinem mehr etwas zu tun haben, am liebsten nicht mal mehr mit mir selbst. Bis zum Tag des Unfalls hatten wir – Vater, Mutter, Tochter – in einer Idylle gelebt, die einer dieser Schneekugeln glich. Hübsch anzusehen und mit einem niedlichen Häuschen in der Mitte. Manchmal wurde diese Welt ein bisschen durchgeschüttelt, dann schneite es, aber das Schneegestöber hatte sich immer schnell gelegt und alles war wieder gut gewesen. Mit dem Tod meiner Mutter zerbrach diese Welt von einer Sekunde auf die andere. Und beim Versuch, die Scherben aufzusammeln, hatte ich mir mein Herz zerschnitten.
    Eigentlich war Nick der Einzige, der freundlich zu mir war und manchmal vorsichtig ein Gespräch suchte. Normalerweise konnte ich mich zu ein bisschen Small Talk durchringen. Bloß steckte heute meine Laune derart im Keller, dass ich nicht mal hätte reden wollen, wenn Take That komplett wiedervereint vor mir gestanden hätten. Leider war Nick offenbar nicht so der Checker, was die Gefühlslage seiner Mitmenschen anging, denn jetzt kam er sogar zu mir rüber.
    »Übrigens ist heute so ’n Streetlife-Festival im Görlitzer Park. Kommst du auch?«
    Ich horchte auf. Das klang gut. Das Areal des ehemaligen Görlitzer Bahnhofs in Kreuzberg hatte sich inzwischen zu einer grünen Hügellandschaft mit ausgedehnten Liegewiesen gewandelt. Dort wurde Frisbee gespielt, Cliquen und Großfamilien jeglicher Nationalität grillten, während Jugendliche lautstark ihre iPods laufen ließen und kleine Kinder auf einem riesigen Spielplatz herumstolperten und im Sand buddelten. Es war immer was los und alle waren relaxt und gut drauf. Vor allem an so einem Sommertag wie heute. Ich wollte Nick schon mit einem »Vielleicht« abspeisen, als mir der väterlich verordnete Hausarrest einfiel. Anscheinend verdüsterte sich meine Miene bedenklich, denn Nick hob beschwichtigend die Hände:
    »Hey easy, ich hab nur gefragt, okay?« Der Frust und die Wut auf meinen Vater waren stärker als mein Vorsatz, Nick zu ignorieren.
    »Nee, ist nicht wegen dir … Ich liege nur gerade mit meinem Dad voll im Clinch«, platzte ich raus. Nick starrte mich ein paar Sekunden verblüfft an. Wahrscheinlich, weil es das erste Mal war, dass ich mit etwas Persönlichem rausrückte.
    »Ah, wieso das denn?«, brachte er schließlich raus.
    »Weil … ach, der nervt einfach. Kümmert sich einen Scheiß um mich, aber kaum krieg ich ’nen Verweis, lässt er den Erziehungsberechtigten raushängen«, meinte ich.
    Dass ich mich von meinem Vater schon seit Langem schäbig im Stich gelassen fühlte, sagte ich nicht. Das ging Nick nichts an. Ich bereute sowieso bereits, ihm überhaupt was erzählt zu haben. Bestimmt wuchs er in einer total intakten Bilderbuchfamilie auf. Sein großer Bruder hatte vor zwei Jahren an unserer Schule Abi gemacht. Er war einer der Besten seines Jahrgangs gewesen, so viel wusste ich. Nick sahnte auch oft Spitzennoten ab, vor allem in Mathe und Englisch. Und er war ein guter Sportler. Sicher würde er mir gleich einen Vortrag halten, wie wichtig ein gutes Verhältnis zu den Eltern war. Er hatte irgendwie so einen Musterknaben-Zug um den Mund. Doch zu meiner Überraschung feixte er nur breit.
    »Deinen Spruch im Matheunterricht fand ich echt saukomisch«, gluckste er.
    »Kunststück, du hast ja dafür auch keinen Hausarrest aufgebrummt bekommen«, knurrte ich, obwohl ich nun selbst grinsen musste.
    »Oh, Mist. Das heißt, Party im Görli fällt für dich aus«, kombinierte Nick und sah mich teilnahmsvoll an. Ich wusste nicht, ob es sein mitleidiger Tonfall war oder ob ich insgeheim längst beschlossen hatte, meinem Vater
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