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Moorehawke 01 - Schattenpfade

Moorehawke 01 - Schattenpfade

Titel: Moorehawke 01 - Schattenpfade
Autoren: Kiernan Celine
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Wynter.
    Sie gab keine Antwort. Stattdessen fühlte Wynter etwas Warmes, Kratziges auf dem Gesicht – nicht unbedingt angenehm – und erkannte, dass die Katze ihr die Wange leckte. Dann stieß sie ihren Kopf unter Wynters Arm und kuschelte sich fest zusammengerollt an ihren Hals. Wynter legte den Arm um das Tier, das wiederum seinen Kopf unter ihr Kinn schmiegte. Es wimmerte. So verharrten sie eine kleine Weile, dicht aneinandergedrängt, wortlos und zittrig, und blinzelten blind in die Dunkelheit.
    Schließlich kehrte das Gefühl in Wynters Beine zurück; steif erhob sie sich und stieg langsam die Stufen empor.
    Auf dem langen, gewundenen Weg nach oben hielt sich die Katze dicht bei ihr und ließ sie dann im Mittelgang zurück. Schlüpfte einfach in die Nacht, ohne ein Wort des Abschieds, im einen Moment noch da, im nächsten fort. Das letzte Stück musste Wynter auf unsicheren Beinen allein zurücklegen.

Fromme Lügen
    D er Schlag der Turmuhr weckte sie.
    »Rory!«, war ihr erster Gedanke, als sie mit einem Ruck aus dem Schlaf schreckte. Sie lag mit dem Gesicht nach unten, Arme und Beine ausgestreckt auf dem Bett – voll bekleidet und schmutzig.
    Wieder ertönte die Glocke. Drei Schläge in der Dunkelheit. Das dritte Viertel! Schon? Razi brach am Mittag auf. Sie selbst brach am Mittag auf. Wynter blieben weniger als sechs Stunden mit ihrem Vater.
    Hastig zerrte sie an der Decke und versuchte, sich zu sammeln. Sechs Stunden! In weniger als sechs Stunden würde sie ihn verlassen. Ohne sie wäre Lorcan ganz allein, und sie wäre irgendwo da draußen in der Welt. O lieber Gott im Himmel! Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie es wirklich fertigbringen würde.
    Benommen schob sich Wynter auf Hände und Knie hoch und kroch vom Bett. Jeder Zoll ihres Körpers schmerzte. Einen Moment lang blieb sie schwankend stehen und kämpfte um ihr Gleichgewicht; ihre Sicht war verzerrt, da ihr gesamtes Blut aus dem Kopf nach unten strömte. Sie lehnte sich an das Fußteil des Bettes und versuchte, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Sie würde jetzt zu Lorcan gehen, ihn wecken, und sie beide würden …

    Ein Geräusch aus dem Gemeinschaftsraum unterbrach ihre Überlegungen; sie stockte und horchte. Marcello Tutti murmelte vor ihrer geschlossenen Tür, und Wynters Herz zog sich zusammen, als sie Lorcan zur Antwort erst stöhnen und dann glucksen hörte. Die beiden Männer gingen langsam an ihrer Tür vorbei in den Empfangsraum. Wynter konnte die schleppenden, bedächtigen Schritte ihres Vaters vernehmen, der von Marcello gestützt wurde. Was für eine Anstrengung das für ihn bedeutete, dieser kurze Weg von einem Raum in den anderen! Wynter wusste sofort, dass er es ihr zuliebe tat, damit sie ein richtiges Frühstück einnehmen konnten, ohne dass Lorcan wie ein Invalide im Bett liegen musste.
    Hätte sie kurz nachgedacht, wäre sie niemals durch die Tür getreten, ohne sich vorher zu waschen. Doch sie war durch und durch erschöpft, ihr Kopf sauste wie ein Glas voller Fliegen, und so riss sie den Riegel zurück und taumelte in den Empfangsraum. Ihr einziger Gedanke war, dass sie ihren Vater sehen wollte.
    Marcello half Lorcan gerade, sich an den Frühstückstisch zu setzen, als sie im Türrahmen auftauchte. Lorcan hielt sich an der Tischkante fest, während Marcello ihn mit einer Hand stützte und mit der anderen einen Stuhl für ihn heranzog. Als die Männer Wynter bemerkten, hielten sie inne, und beide stießen bei ihrem Anblick hörbar die Luft aus und machten erschrockene Gesichter.
    »Oh, Signorina!«, rief Marcello.
    Lorcans Miene wurde schwarz und drohend, als er ihre schmutzigen Kleider musterte, ihr aufgeschürftes Kinn, das zerschundene Gesicht. »Wer zum Teufel hat das mit dir gemacht?«, fauchte er.
    Die Entrüstung der beiden Männer focht Wynter im ersten
Moment überhaupt nicht an – sie war ganz vertieft in den Anblick der Kerzen, der Vase mit den gelben Rosen, des wunderschön gedeckten Tisches. Sie wandte ihren benebelten Blick Lorcan zu und bemerkte sein frisches weißes Hemd, den förmlichen langen Mantel und die Hose, die auf Hochglanz polierten Stiefel. Lorcans Haar war gebürstet, glänzte und hing ihm offen über die Schultern, als speiste er bei Hofe. Doch er war immer noch totenbleich, die Augen und Wangen hohl, und seine massigen Arme zitterten vor Anstrengung, während er sich schwer auf den Tisch stützte. Dennoch war er ein prachtvoller Anblick. Wynter sah den Zorn in seinen Zügen und
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