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Moor

Moor

Titel: Moor
Autoren: Gunther Geltinger
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erschrocken, weil in den zwei Worten weder Hauch noch Stockung gewesen sind. Sie packte ihre Pinsel weg, du hast dich angezogen und bist hinüber zum Haus, das du auf zwanzig Meter kaum sehen konntest. Als du dich auf der Veranda nach ihrumdrehtest, hatte sich der Nebel deine Mutter doch noch geholt.
    Viertel vor acht. Sie ist jetzt bei der Erle mit dem dreifach gespaltenen Stamm angelangt, die mit dem schon welken Laub ein wenig an eine verlumpte Gestalt erinnert und einst viergliedrig, wie mit Beinen und Armen, gewesen sein muss, bevor ein Blitz in einen der Äste fuhr, der dann aufs Wasser stürzte. Gleich wird sie sich auf den Rücken drehen und noch ein Stück weiter schwimmen, bis unter die abgestorbenen Zweige, in denen du schon immer die Finger einer Hand gesehen hast. Dort wendet sie sich wieder um und schaut in die Tiefe. Jeden Morgen hast du dich gefragt, was sie dort sucht, in diesen zerdehnten Sekunden unter der Erlenklaue, wo sie sich kaum mehr rührt und langsam sinkt, bis ihr Kopf eintaucht und du auf dem Stumpf die Luft anhältst; erst wenn die Sonne über die Horizontlinie tritt und das Licht den dunklen Spiegel des Teichs zerreißt, blickt sie wieder hoch, und du atmest auf.
    Doch heute, hoffst du und schaust abermals auf die Uhr: dreizehn vor acht, heute, denkst du und löst schon die Schnallen am Ranzen, denn sie ist schon beim Ast, heute, Dion, ist deine Kindheit endgültig vorbei, das Wasser hat keine Bilder mehr, der Teich ist stimmlos wie dein Leben, das viel zu lange keine Luft bekommen hat. Es gibt keine Klaue, keine Erlengeister, nirgends Binsengeflüster und Windgeraune, und dass du mir angeblich ähnlich siehst, ist Quatsch. Haarfarbe, Sommersprossen und die moorbraunen Augen kommen nach deinem Vater, und deinen Namen hat dir, wie soll es anders sein, die Mutter verpasst. Niemand redet, wenn du mich belauschst. In Wahrheit bin ich stumm wie ein Fisch, doch nicht einmal Fische sind in den Tümpeln zu finden,nur Alpträume und Schauergeschichten, totes Zeug, das im sauren Wasser nicht verwesen kann. Dazwischen legen die Libellen ihre Eier. Also steh auf, und nimm dein gottverdammtes Referat in die Hand! Gleich wird sie zum Ufer zurückschwimmen, wo du mit dem Schirm stehen und ihr das Handtuch reichen wirst, die beste Gelegenheit, ihr all das, was ich dir bis jetzt eingeflüstert habe, nicht entgegenzustottern, sondern zu -schreien, und selbst vor der Klasse wird es dann kein Halten mehr geben, ihr Hasenfüße, rufst du, ihr Hosenscheißer, hört mir gefälligst zu!, mit messerscharfer Stimme, die selbst das H zischt, so dass in den Bänken vor Staunen die Münder aufklappen und David Voss, dein Erzfeind, sich hinter Thorsten Hinrich duckt, vergeblich, denn was du zu sagen hast, wird ein Sturm sein, falsch, ein Hurrikan, der alles niederbrüllt.
    Nur Tanja Deichsen verschonst du. Die Pfarrerstochter, die mit dem letzten Klingeln und nicht selten ein paar Minuten später ins Klassenzimmer stolpert, oft noch nach dir, wofür Gorbach euch beide nachsitzen lässt, mittags, wenn das Schulhaus leer und es zwischen den Bänken so still geworden ist, dass der Kopf des Deutschlehrers immer tiefer über die Aufsätze auf das Pult sinkt und sie schließlich herübernickt, leise ihre Sachen zusammenpackt und zur Tür hinkt. In Sekundenschnelle hast du den Ranzen geschultert und sie auf dem Korridor eingeholt, doch du wahrst den Meter Abstand, in dem all die unaussprechbaren Gefühle Platz haben, und erst an der Kirche dreht sie sich um und sagt: tschüss –, in geheimer Komplizenschaft, scheint dir, weil Tanja ähnlich wie du das ist, was man behindert nennt, und nicht Knochen wie jedermann, sondern gläserne hat, genauer gesagt ein Skelett, dem ein wichtiger Baustein fehlt, weshalb esschon bei der geringsten Belastung zersplittert. Sie ist kleinwüchsig und zierlicher als die anderen Mädchen in ihrem Alter, auch ein wenig krumm von einem schlechtverheilten Bruch, eine, die du schon im Kindergarten abseits stehen sahst, oft mit Gips. Aus ihren blau eingetrübten Augen, die ihr etwas Geheimnisvolles und Fremdartiges verleihen, betrachtete sie still das Gedränge der anderen und erschrak, wenn ein Missgeschick passierte, jemand von der Schaukel stürzte oder sich beim Fangenspiel flachlegte, stimmte aber stets in das Gelächter mit ein, sobald der Tollpatsch sich wieder aufrappelte und weitertobte. Beide seid ihr die Kinder vom Rand des Spielplatzes gewesen, du der Sprech-, sie der Gehkrüppel, der
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