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Moor

Moor

Titel: Moor
Autoren: Gunther Geltinger
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der Konfirmandengruppe überlebst du nur unter der Deckung des Buchstabens H in der Mitte deines Nachnamens, bei dem du Luft holen kannst und Zeit gewinnst, weil er fast unsichtbar beziehungsweise tonlos ist, weich und leicht wie Wind in stacheligen Binsen.
    Du denkst dir beim Reden einen Hauch um alle Worte, umhüllst das Geröll deiner nur mühsam in Reih und Glied, Silbe und Satz gebrachten Gedanken, sagst: hDihon hKatt-husen und hKann hich hnicht hdahbleiben . Deine Sprache zerfächelt zu Vagheit und Dunst, was du willst, löst sich auf, wer du bist, weißt du kaum selbst, ziehst mit deinem Geheimnis durch die Welt wie eine ziellos wandernde Nebelbank über das tückische Wasserland, kein Wunder, Dion, dass sich alle fragen, was du mit mir zu schaffen hast.
    Nur die Mutter versteht ihr stotterndes Kind. Du brauchtest den Satz gar nicht zu Ende zu bringen. Sie tue das alles doch nur für dich, sagte sie und zeigte mit der Hand halb zu dir, halb zum Fenster hinaus, eine Geste, die nichts erfasste und alles einschloss, dich, das Haus, das Dorf, den tiefen Himmel, die Scheune mit all den unbrauchbaren Bildern darin, ihre Arbeit in Hamburg, den gestrigen Tag, den du ihr immer noch nicht verzeihen wolltest. Du hast betreten an ihr vorbei und hinaus zu mir geblickt, am Fenster flüsterte der Regen. Nie hast du diesen Satz wirklich verstanden, aber stets gewusst, was sie nach einer kurzen Pause noch hinzufügen würde. Hast du mich denn nicht mehr lieb?, fragte sie nach zwei drohend verlangsamten Sekunden, die Antwort kannte sie schon. Das hdoch steckte wieder im Hals fest, kam zu spät und dann mit so viel H, dass du selbst es kaum hörtest. Da hatte sie längst die Badetasche in der Hand, grinste zufrieden und boxte dich zur Tür. Unten nahm sie den Schirm aus dem Kübel und spannte ihn auf. Dann trieb sie dich raus in den Regen.
    Zwanzig vor acht. Noch ist sie nicht am gegenüberliegenden Ufer, hat zu deinem Ärger sogar den Umweg über die Mündung des Grabens genommen, aus dem das Sickerwasser strömt. Sie zieht eine Schneise in den Laubteppich, Blätter und abgerissene Erlenkätzchen versinken in den Strudeln unter den Händen. Auf der Uhr hastet der Sekundenzeiger von Strich zu Strich, du willst ihn ausbremsen und gleichzeitig die Mutter antreiben, noch neunzehn Minuten, dann musst du sprechen.
    Sie denkt tatsächlich, das Referat wäre ein Aufsatz. Dein Stottern scheint sie nicht zu hören, oder sie hört es, ohne dass es sie stört, sie hört und sieht Tag für Tag deine Qualen und Kämpfe und ist auch noch froh, einen Sohn zu haben, der nicht ununterbrochen plappert und kräht, unter hundert Kindern, hat sie einmal gesagt und dir den Finger auf den krampfenden Mund gelegt, würde sie dich sofort heraushören. Doch sie hat gelogen, Dion. Wahr ist, dass du unter hundert Kindern verloren bist. Schon vor den zwanzig aus deiner Klasse wird es dir buchstäblich die Sprache verschlagen, wenn du gleich das Thema deines Vortrags nennen sollst, das Gorbach im Glauben, dir damit zu helfen, an die Tafel schreibt: Der Lebenszyklus der Libellen. In den Bankreihen stöhnt jemand genervt, ganz hinten meldet sich David Voss und ruft: Schreibt man Zyklus nicht in der Mitte mit H?
    Allein mit der Überschrift ist die ganze Sache schon gelaufen. Du hättest statt Der Lebenszyklus einfach nur Das Leben sagen sollen, das Z ist der zornige kleine Bruder des K und ihm mit vier Spitzen wie aus dem Gesicht geschnitten. Besser noch wäre Das Verhalten gewesen, so hättest du dich wenigstens einmal hinter ein H ducken können, aber das fällt dir zu spät ein. Jetzt bleibt dir auch noch die Spucke weg, deine Hände beginnen zu zittern, auf dem Blatt verrutscht der Text, sieben Seiten gewissenhaft ausformulierte Sätze, obwohl Gorbach nur Stichworte erlaubt hat.
    Tagelang hast du den Duden im Abschnitt H gewälzt und in jeden Halbsatz ein paar zusätzliche Worte eingehakt, damit du einigermaßen heil über die Klippen kommst. Du hast die Hauptwörter im Satz hin und her und Hilfsverben hinein- und hinausgeschoben, der Text war vom H schon ganz umnebelt, und abends im Bett, wenn du in Gedanken wieder und wieder die Sätze durchdachtest, hat dich ihr heller Klang, vorm offenen Fenster eine bereits herbstlich kühle Nacht und die Hoffnung, dir vor Mittwoch doch noch eine Grippe zu holen, langsam in den Schlaf gehaucht.
    Seit Sonntag ist alles fertig, du hast das Referat mehrmals abgeschrieben und Marga beim Mittagessen die Seiten neben den
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