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Moor

Moor

Titel: Moor
Autoren: Gunther Geltinger
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wegen gestern?, fragte sie und kam herüber, und da erst hast du die kaputte Lippe gesehen.
    Der Zustand ihres Mundes ist schon immer ein Gradmesser für ihre Stimmungen gewesen. Du kannst ihr die Laune buchstäblich von den Lippen ablesen, glatte bedeuten guter, aufgeplatzte schlechter Tag, dann hat sie nicht malen können und auf der Unterlippe gekaut, eine schlaflose Nacht gehabt oder etwas getan, das sie im Nachhinein bereut, selten sind Mund und Gemüt deiner Mutter ohne Risse und Wunden.
    Ute sei krank geworden, da habe sie einspringen müssen. Sie legte dir die Hand auf die Schulter, du hast sie weggewischt und im selben Moment wieder nehmen und fest an dich drücken wollen. In der Galerie war viel los, fügte sie hinzu, keine Zeit zum Anrufen, eine Behauptung, die du ihr noch nie geglaubt hast. Sie sagte es vorwurfsvoll, als hätte Ute sie abgehalten, die Galeristin, die einmal aus Hamburg gekommen war, um mit ihr Bilder auszuwählen, und dich sogar nach deinen Favoriten gefragt hatte. Du hast auf die Moorbilder gedeutet, die dir gefallen, Birkenstümpfe wie Skelette, ein Gewitter über dem Teich, wo Wolken sich zuFratzen ballen. Ute sagte, hübsch, und entschied sich für die Akte, meist Selbstporträts, die deine Mutter seitdem jeden Mittwoch ausstellt, wenn im Viertel Kunstmarkt ist und die Galerie angeblich mit Touristen überfüllt.
    Sobald du aus dem Haus bist, fährt sie mit einem Kofferraum voll Nackter weg und kommt spät in der Nacht mit denselben wieder zurück. Du hast dir angewöhnt, die Bilder zu zählen, wenn du ihr beim Ein- und Ausladen hilfst, und bisher hat noch nie eines gefehlt. Wenn sie gegen Mitternacht heimkommt, ist ihre Laune mies. Sie raucht auf der Veranda noch zwei Zigaretten und trinkt in der Küche hastig den Wein. Du hörst sie kommen und steckst dein Tagebuch schnell in die Bettritze. Schreibst du wieder schlecht über mich, grinst sie, zieht dir den Stift aus der Hand und legt sich in kalten Kleidern zu dir. Mittwochs riecht sie anders als sonst, nach Stadt. Sie liegt ein paar Minuten reglos da und atmet schwer. Was hast du gemacht?, fragt sie, obwohl sie es weiß. Du warst wie immer vormittags in der Schule, später bei den Hausaufgaben und danach draußen an den entlegenen Tümpeln, wo du den Adlerfarn und die Stängel des Schnabelrieds nach den Schlupfhäuten der Libellenlarven für deine Sammlung abgesucht hast. Du stützt den Kopf in die Hände und schaust sie an. Manchmal beben die Nasenflügel, eine Haarsträhne, die über ihrem Mund liegt, zittert im Atem, ein Lid zuckt. Sie tut, als schliefe sie, doch du weißt, dass sie noch etwas will. Trotz Puder scheint sie dir blass und abgekämpft, das Kajal um ihre Augen ist zerlaufen, den Lippenstift hat sie schon abgewischt und die Heilsalbe aufgetragen; mit all den Schichten im Gesicht ist dir die Mittwochsmutter stets ein wenig fremd. Mittwochs hat sie oft keine Zeit oder Lust, zum Teich zu gehen, zieht schwarze Strümpfe an, tupft Parfumauf den Hals und toupiert sich das Haar, stundenlang ist das Bad besetzt, du pinkelst auf dem Schulweg gegen den Zaun. Morgens summt sie die Radioschlager mit und flucht am Abend über den Saustall im Haus, den sie selbst angerichtet hat. Erst ist ihr Mund blutrot, dann, nach ihrer Rückkehr, weiß von der Creme. Den Mittwoch hast du nie gemocht; er macht dich einsam und traurig, und Marga bekommt er nicht gut. Du suchst auf ihrem Mund einen Hinweis, warum der Mittwoch ein böser Tag ist, doch wegen der Schmiere darauf kannst du nicht sehen, wie es ihr tatsächlich geht. Sie dreht dir das Gesicht hin, zieht eine Schnute und verlangt den verdienten Kuss. Du beugst dich über sie, nimmst die Haarsträhne zwischen die Lippen und legst sie ihr auf die Schläfe. Sie sagt: Alles wieder gut.
    Doch gestern, Dion, war gar nicht Mittwoch und sie trotzdem fort bis spät in die Nacht. Nach der Schule lag ein Zettel auf dem Tisch: Muss in die Galerie, und in ihrer steilen Kinderhandschrift darunter: Essen nicht vergessen. Dein Magen zog sich zusammen, ein Schmerz begann darin zu wühlen, Bisse wie von einem mit Zähnen bespickten Maul. Du hast den Deckel vom Pott gehoben, darin der duftende Allestopf, der so heißt, weil man praktisch alles, was die Vorratsschränke hergeben, in dem Sud verkochen kann. Wenigstens hatte sie dir das Leibgericht zubereitet, das zu essen du aber dann doch verweigert hast, aus Protest gegen die Lüge. In der Scheune nämlich hat kein Bild gefehlt, all die Kofferraumnackten
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