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Moor

Moor

Titel: Moor
Autoren: Gunther Geltinger
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Teller gelegt. Dich nach ihrem Lob gesehnt, doch sie maulte nur, wann sie das alles lesen solle, räumte ab und ging malen. Den Rest des Tages hast du mit den gefalteten Bögen unterm Hintern in der Werkstatt verhockt, wo sie rastlos strichelte, angeblich fehlte ihr für die Bewerbung an der Hamburger Akademie noch ein Porträt. Sie schaute runter, wieder hoch und dabei ständig durch dich hindurch, rief: Brust raus! Gesicht weiter nach rechts! Nein, nicht bewegen jetzt!, oder: Guck doch nicht so gelangweilt!, ließ plötzlich den Kohlestift sinken, kaute auf den Lippen und blickte verdrossen zum Fenster. Der Nebel war bis dicht ans Haus gekrochen und glotzte aus blinden Augen zurück.
    Auf diesen Moment hattest du gewartet. Wenn sie aus dem Fenster zu starren beginnt, ist ihre Idee weg, hat sich vor dem leeren Himmel in Luft aufgelöst. Du hast die oberste Seite hervorgezogen und schon tief eingeatmet für den ersten Satz mit sage und schreibe sechs Hs. Noch vor dem ersten Wort kratzte ihr Stift wieder auf dem Nessel. Sie sagte: Nicht lesen jetzt, kam herüber, nahm dir die Seiten ab, zogdir Pullover und Hemd über den Kopf, verschränkte deine Arme im Nacken und drückte dir wie zur Ermahnung, dich von nun an nicht mehr zu rühren, ihren Mund auf. Endlose Minuten hast du halbnackt im Gerümpel gehangen, mit einer Hinterbacke auf deinem Vortrag, eine unbequeme Unterlage, die sich dir ins Fleisch bohrte, trotz all der Hs. Der Kohlestift schürfte, der Nebel leckte am Fenster, wollte sich ihre Idee holen und dir beim Sprechen helfen, doch sie schaute nicht mehr zurück, weder hinaus noch zu dir, war voll in Fahrt. Draußen erlosch ohne Übergang das letzte Licht, sie knipste die Lampe an, in der Scheibe spiegelte sich jetzt dein Körper, der dir in so groben Umrissen kräftiger und älter erschien, beinahe erwachsen. Dann doch ein Blick zum Fenster, ein langer, blitzender, kein Starren ins Leere, eher wie eine Beschwörung. Jetzt sah sie nur noch auf ihre Zeichnung oder hinüber zu deinem Spiegelbild vor der Nacht, tat, als wärst du gar nicht mehr da. Das Geräusch des Stifts wurde leiser, setzte schließlich ganz aus, oder war der Nebel nun doch in die Scheune gedrungen, fraß alle spitzen Laute und hüllte dich ein? Die Kiste in deinem Rücken hörte auf, ins Kreuz zu stechen, und selbst das Referat stellte in deinem Kopf sein Gestammel ein. Beim letzten Blinzeln sahst du die Mutter glücklich und sehr jung hinterm Arbeitstisch.
    Als sie dich weckte, sahst du ein Bild, auf dem ein junger Mann nackt und mit überstrecktem Kopf über einen Gegenstand gebreitet lag, den du zuerst für die Kiste gehalten, bei genauerem Hinsehen aber als den Baumstumpf am Teich erkannt hast. Ein Arm hing locker zu Boden, die andere Hand ruhte auf dem Schenkel und verdeckte halb das Geschlecht, das steil hinter dem Handrücken aufragte. Erst alsdu dich an der Stelle festgestarrt hattest, sahst du, verborgen im Gewirr der Striche, das Insekt. Die geschlossenen Finger bildeten die Flügel, Handgelenk und Knöchel den Kopf, den die Libelle in die Höhe reckte, in der Art, wie du es am Teich beobachtet hattest, beim Balztanz, wenn das männliche Tier das weibliche mit der Greifzange am Ende des Hinterleibs packt und sie miteinander ein Paarungsrad bilden, wobei die Insekten auf dem Schilfblatt, wo sie sich ineinander verkeilen, oft den Halt verlieren und in Form eines Herzens davonfliegen.
    Erschrocken hast du an dir heruntergeblickt, doch die Hose hattest du an. Das ist gut, sagte sie, ihre Stimme klang dennoch verzagt. Im Drang, die peinliche Blöße auf dem Bild zu bedecken, schobst du wie im Reflex die Hand zwischen die Beine, fandest, sie hatte schon Besseres zustande gebracht. Was sollte der Junge mit dem Libellenschwanz? In der Akademie, wo die Professoren das Bild bewerten, würden sie denken, deine Mutter sei ohne Anstand. Außerdem hatte sie dich schlecht getroffen, als Porträt hättest du es durchfallen lassen. Die verwischte Person auf dem Baumstumpf erschien dir jetzt nicht mehr als schlafend, sondern mit der spärlichen, fast erloschenen Mimik eher wie tot. Das bin nicht ich, hast du protestiert, der Satz hat elend lange gedauert, sie hat nach der zweiten Silbe schon gewusst, was du sagen willst, sprach jedes Wort stimmlos mit, als wollte sie dir helfen, es über die Lippen zu bringen, und kam dabei ganz nah. Glaub nie einem Bild, zwinkerte sie und warf dir den Pullover hin. Und dir?, fuhrst du sie an, und ihr seid beide
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