Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Moor

Moor

Titel: Moor
Autoren: Gunther Geltinger
Vom Netzwerk:
nie ist das Bild, das ich dir zeige, so leer und wahrhaftig gewesen wie in diesem Moment.
    Sie taucht auf, prustet, fingert sich Laub aus den Haaren. Wie lange das gewesen sei, keucht sie herüber und lacht. Die Minute, die sie unter Wasser war, scheint dir wie Tage und Wochen, so alt ist plötzlich der Schmerz, das weiße Gefühl vom Morgen am Teich tot und vergilbt, es fällt von dir ab wie ein welkes Blatt. Ich werde es fressen, du wirst es vergessen. Du trittst einen Schritt zurück, dann wieder vor, doch die Erleichterung bleibt aus, ist nun eher wie ein Gewicht, das dich noch tiefer in den Grund drückt. Der Regen wird stärker, Wind beugt die Zweige, fegt den letzten Dunst aus den Erlen. Ob du dich vorher nicht ausziehen willst, grinst sie und merkt nicht, wie groß deine Sorge war. Du beginnst zu frieren, auch sie schlingt die Arme um die Brust, schiebt dich ans Ufer und angelt den Schirm aus dem Wasser, der langsam zu sinken beginnt. Zieht das Badetuch aus der Tasche, trocknet dich ab. Du kämpfst gegen den Druck im Hals, kannst dich noch immer kaum rühren. Bist froh über das Handtuch auf dem Gesicht, sie soll nicht sehen, dass du weinst. Sie hält es für Regen, trocknet nun auch sich ab, drückt dir in die eine Hand den Schirm und in die andere einen Zipfel, damit du sie abreibst, wie du es als Kind immer getan hast. Früher gab es auf ihrem Körper gemeinsame und eigene Territorien, du hast ihr Rücken und Hals betupft, sie die Stellen, die an Müttern den Vätern gehören. Jetzt weißt du plötzlich nicht mehr, wohin mit den Händen. In deiner Kehle brennt es, als hättest du in den letzten Minuten ununterbrochen geschrien.
    Was denn los sei, sagt sie, schüttelt dich und die Taubheit aus deinen Gliedern, zieht das Badetuch weg und verneigt sich. Früher hat das Kind zum Abschluss der Pantomime geklatscht, jetzt starrst du gegen die Bäume, wünschst dich mit ihr zurück unter den Schirm, in die warme Handtuchglocke,wo die Welt noch einmal zusammengeschrumpft wäre auf ein vertrautes, altbekanntes Gefühl. Dort hättest du ihr alles erzählt, was du dir in den letzten Jahren an Kenntnissen über den Lebenszyklus der Libellen aus Büchern und durch deine Beobachtungen im Moor angeeignet hast. Im Takt des trommelnden und tropfenden Regens und in langen Sätzen, die dir aus dem Mund perlen wie die Wasserschnüre vom Schirm, hättest du sie in das Geheimnis des Insekts eingeweiht, das auf dem Grund des Teichs eine langwierige und reizarme Kindheit verbringt, bis zu dem einzigartigen, gleichzeitig aber auch gefährlichsten Moment seines Lebens, wenn es in den frühen Morgenstunden an einem Binsenhalm hochklettert, sich aus der alten Haut zwängt und dabei schutzlos seinen Feinden ausgeliefert ist. Der Akt der Verwandlung selbst kann misslingen, wenn die junge Libelle mit den noch ungelenken Flügeln in der Schlupfhaut oder an einem Dorn hängen bleibt. Auch der erste Flugversuch, der Jungfernflug, ist unbeholfen, das Insekt ein gefundenes Fressen für Vögel, denn in dieser Phase ist die adoleszente Libelle, Imago genannt, ganz auf die Erprobung ihres neuen Körpers konzentriert, den sie noch kaum beherrscht. Doch je höher sie in die Luft steigt, umso sicherer und eleganter werden ihre Kreise, schon bald schlägt sie um den Vogelschnabel gekonnt einen Haken, schraubt sich in den Himmel und fliegt lautlos ins Moor, wo sie, so lautet der letzte Satz des Referats, herkommt und hingehört.
    Alles wieder gut?, fragt sie, zieht den Bademantel aus der Tasche und wickelt sich in den weißen, flauschigen Stoff. Als du zu ihr schaust, stellst du fest, dass eure Blicke sich fast auf horizontaler Linie begegnen, als hätte dich plötzlich die Zeit überholt, obwohl doch in den letzten Minuten nichtsweiter passiert ist, als dass du dich von deinem Baumstumpf erhoben hast.
    Du schnappst den Ranzen. Sie hält dich am Arm fest und verlangt den Kuss. Viel Glück bei deinem Aufsatz, sagt sie, der eine glatte Eins werde, was sie jetzt schon wisse, glaub mir, lacht sie, Mütter haben da einen sechsten Sinn. Fünf vor acht. Du reißt dich los und rennst über den Heidedamm ins Dorf; wie der wohl aussieht, denkst du, so ein übermenschlicher mütterlicher Sinn, der dich zum Reden bringt? Zieh dich vorher um, ruft sie dir hinterher, da hat der Regen sie schon aus dem Teichbild gelöscht.
    Der Schulhof ist leer, auch die Aula haben die letzten Nachzügler bereits verlassen. Du stürzt die Treppe hoch, rennst durch den Lichthof,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher