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Letale Dosis

Letale Dosis

Titel: Letale Dosis
Autoren: Andreas Franz
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Prolog
    Sie hörte es bereits an den Schritten, die langsam die knarrenden Stufen zu ihrem Zimmer heraufkamen. Sie wußte, es war wieder soweit, er würde versuchen, so leise wie möglich die Tür zu öffnen, sich blitzschnell ins Zimmer drängen und die Tür genauso schnell wieder hinter sich schließen. Bis vor wenigen Minuten noch hatte sie Radio gehört, ein paar Eintragungen in ihr geheimes Tagebuch gemacht, das sie so gut versteckt hielt, daß keiner es bis jetzt gefunden hatte. Eintragungen, die ihr ein wenig halfen, über das, was ihr widerfuhr, einigermaßen hinwegzukommen. Seit vier Jahren war das Tagebuch ihr ständiger Begleiter, dem sie all ihre Wut und Verzweiflung und Ohnmacht, all ihren Schmerz und all die Demütigungen, die ihr zugefügt wurden, anvertrauen konnte. Heute hatte sie nicht viel zu schreiben gehabt, nur ein paar Zeilen mit ihrer Vorahnung, doch sie wußte, die nächste Eintragung würde länger und voller Tränen sein, Tränen, die nicht mehr über ihre Wangen flossen, sondern die sie still in sich vergoß. Tränen, die mittlerweile einen tiefen See voll Leid gefüllt hatten. Und manchmal fragte sie sich, ob sie jemals eine Zeit erleben würde, in der dieser See allmählich austrocknete. Sie glaubte an Gott, so wie alle in diesem Haus vorgaben, an Gott zu glauben. Doch sie wußte inzwischen, daß die andern nur logen und betrogen, daß Gott in ihrem Leben keine wirkliche Rolle spielte, denn hätte er das getan, hätten sie
das
nicht zugelassen.
    Aber sie glaubte an Gott, wußte, er stand ihr selbst in der größtenNot bei, und wenn sie Gott auch nie gesehen, nicht einmal seine Stimme gehört hatte, sie wußte, er war da und sie konnte jederzeit zu ihm kommen und all ihren Ballast bei ihm loswerden. Und manchmal verspürte sie in Momenten tiefster Traurigkeit und Verzweiflung, wie eine sanfte Hand sie berührte, die ihr die Kraft gab, dies alles zu erdulden.
    Sie hatte die Tür abgeschlossen, weil sie schon beim Abendbrot gespürt hatte, was später am Abend geschehen würde, wenn alle andern schliefen; wie er sie immer für kurze Momente ansah, Blicke, die sie schon tausendmal gesehen hatte, die wie Speerspitzen in ihr Herz drangen. Er hatte ihr verboten, das Zimmer abzuschließen, er hatte gesagt, niemand in diesem Haus bräuchte sich einzuschließen, es sei denn, jemand hätte etwas zu verbergen, doch das wäre nicht gut, denn Gott würde so etwas nicht gutheißen.
    Sie war acht gewesen, als ihr Vater das erste Mal nachts in ihr Zimmer geschlichen kam, und sie würde nie den unbeschreiblichen Schmerz vergessen, den er ihr zugefügt hatte. Sie hatte damals schreien wollen, damit alle hörten, was geschah, doch er hatte ihr den Mund mit brutaler Gewalt zugehalten. Schließlich hatte er gesagt, dies wäre nur der Anfang, und sie dürfte unter keinen Umständen irgend jemand etwas davon erzählen, sonst würde das furchtbare Strafgericht Gottes über sie kommen, und was das bedeuten würde, wüßte sie – keine Möglichkeit, eines Tages an der Seite Gottes zu wohnen, in seiner Herrlichkeit und seiner allmächtigen Güte. Sie hatte ihm in dieser Nacht versprechen müssen, nie ein Wort darüber zu verlieren, und sie hatte es versprochen, denn sie wollte nicht ungehorsam sein. Es folgten Hunderte von diesen Nächten, in denen sie innerlich schrie und flehte und Gott anbettelte, ihr doch zu sagen, warum er zuließ, daß ihr das angetan wurde. Aber sie war noch viel zu jung, um wirklich zu begreifen, was mit ihr geschah.
    Sie saß im Schneidersitz auf dem Bett, nur die kleine Lampe nebendem Bett brannte. Sie hatte die Hände gefaltet, ihr Blick war zur Tür gerichtet. Die Schritte verstummten, kein Knarren mehr. Es war kurz nach elf und eigentlich hätte sie längst schlafen wollen, doch weil sie wußte, was passieren würde, war sie extra aufgeblieben. Sie sah, wie die Klinke heruntergedrückt und wieder losgelassen wurde. Sie rührte sich nicht, starrte nur wie gebannt auf die Tür. Ein weiteres Mal bewegte sich die Klinke nach unten, wurde von außen gegen die Tür gedrückt. Leises Klopfen, sie bewegte sich nicht von der Stelle. Dann klopfte er wieder, diesmal etwas lauter und es klang wütend, doch noch immer leise genug, daß niemand sonst im Haus etwas davon mitbekam.
    »Mach bitte sofort die Tür auf«, sagte er in zischendem Flüsterton. »Du weißt, ich kann auch anders!«
    »Ich will schlafen«, sagte sie. »Es ist spät.«
    »Wenn du hättest schlafen wollen, dann hättest du schon
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