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Moor

Moor

Titel: Moor
Autoren: Gunther Geltinger
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standen herum, darauf posierte die Mutter in Grätsche und gefährlich verkrümmt, zwischen den Beinen ein schwarzer Zacken, kein Wollgrasnest, ein tiefer Spalt, noch nie war dienstags Kunstmarkt gewesen. Der Schmerz kaute und fraß, du hast an den Farbtuben und Terpentinbecherngeschnüffelt, der Lösungsmittelgeruch riss die Bauchwunde noch größer, ein rotes Gefühl, weil du plötzlich an den Sonnentau denken musstest, wenn du die kleinen Mücken von deinem Arm auf die wie Blutstropfen leuchtenden Tentakel der Moorpflanze schnickst, die sofort zupacken und beginnen, ihr Opfer bei lebendigem Leib zu verdauen.
    In Gedanken hast du sie übel beschimpft und einen Verdacht in die Kladde gekritzelt. Den Rest des Nachmittags dann im Zimmer verhockt, immer mit Blick auf den Heidedamm, wo nie ein Wagen fährt außer dem Trecker und ihrem alten Ford. Hast im Kopf wieder und wieder das Referat abgespult, um die Zeit rumzukriegen. Doch die Hoffnung, mit ihr wenigstens einmal einen Durchlauf zu proben, war zerstört, aufgefressen von diesem Gefühl, das noch qualvoller war als das Gespött der Klasse und deine Stotterangst. Es schien sogar die Zeiger auf der Libellenuhr zu bremsen, die bei jedem Blick zur Wand langsamer wurden, krochen, voranzuckten, wieder krochen, bis kurz nach vier. Du hast dich aufs Bett geschmissen, reglos dagelegen und zugesehen, wie die Libelle mit ihren Zangen die Zeit aus deinem Körper riss. Dann war es plötzlich fünf, mittwochs um fünf ruft sie aus der Galerie an und will wissen, ob du gegessen, deine Hausaufgaben gemacht und dein Zimmer aufgeräumt hast. Manchmal, wenn gerade niemand zuhört, fragt sie leise, ob du sie vermisst. Da bist du raus aus dem Bett und runter zum Telefon, doch um Viertel nach war der Apparat noch immer stumm und das Loch in deinem Bauch so groß, dass das Haus, der Heidedamm, das Dorf und das ganze Moor mit seinem ewig unbehausten Himmel darin zu verschwinden drohten. Irgendwann hast du den Hörer abgenommen und in dem leeren Ton meine Stimme gehört.
    Sie kam spät nach Hause, später als sonst, fett und vollgefressen saß die Libelle auf Viertel nach eins. Du hast dem Knirschen der Reifen auf dem Schotter gelauscht, bis der Motor des Fords verstummte, dann das Licht gelöscht und dich schlafend gestellt. Erst nach mindestens drei Zigarettenlängen schlug die Verandatür. In der Küche knallte ein Korken, dann blieb es lange still, der Schlaf lockte und zerrte, du hast dich stur dagegengestemmt. Traumfetzen verklebten dir die Augen, beim Blinzeln sahst du sie im Türrahmen stehen. Dann spürtest du sie. Ein Beben ging durch die Matratze, du hast dich in die Ritze gedrückt. Sie war jetzt so nah, dass sie dir den Atem in die Nase blies, er stank nach Zigaretten und Wein. Plötzlich begann ihr Körper zu zittern, sie legte das schwere Bein auf dich und presste ihr Gesicht an deinen Hals, wo es nach einer Weile warm und feucht wurde. Obwohl es wie verrückt juckte, hast du dich nicht gerührt. Sie zerrte deinen Arm unter der Bettdecke hervor und zwang ihn um ihren Leib, und als würde die Geste eine tiefe Lähmung in dir lösen, hast du sie endlich herangezogen. Das Jucken ließ nach, nichts bewegte sich mehr. Nur die Augen der Libelle wanderten von euren Füßen über die Körper zu den Köpfen und durch die rote Nacht wieder zu den Füßen zurück, Minuten, in denen du noch einmal das Kind warst, das tastend die Haarsträhne auf ihrer Wange sucht und sich wünscht, nie mehr anders zu schlafen, kein anderer zu sein, so und nicht anders mit ihr zu bleiben. Da drehte sie den Kopf, vielleicht selbst erschrocken über die plötzliche Enge; statt um die Strähne schloss dein Mund sich um die Lippenkruste. Sie schmeckte nach Teich, ein wenig bitter und rostig. Ein einziges Mal hattest du einen Tropfen probiert, ihn, verführt von der Farbe, aus der Handfläche geleckt und die eisensaure Moorbrühe angeekelt wieder ausgespuckt. DieEnttäuschung war ähnlich gewesen, farblos und taub, kein Gefühl eigentlich, eher etwas, das plötzlich fehlte.
    Da hast du sie weggestoßen und zum Lichtschalter gelangt. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, stützte sich auf und sagte: Alles wieder gut, doch du wusstest, dass der Satz, genau wie der Zettel am Morgen, gelogen war. Auch ihr Kleid erschien dir wie ein Verrat. Es gehörte nicht zu ihrer Mittwochsgarderobe und war rot. Der Gutenachtkuss war verpatzt, das Kind von der Mutter geprellt, der Teich hat noch nie nach Cola geschmeckt,
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