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Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran

Titel: Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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Leider keine Chance, der Schalter war nämlich ich, und ich konnte nicht aufhören.
    Monsieur Ibrahim verhielt sich mustergültig. Als er das Geschrei hörte, kam er rauf, verstand sofort die Situation und sagte, daß er nach Marseille fahren würde, um die Leiche zu identifizieren. Am Anfang waren die Polizisten ihm gegenüber mißtrauisch, weil er wirklich wie ein Araber aussah, aber da ich wieder losbrüllte, akzeptierten sie den Vorschlag von Monsieur Ibrahim.
    Nach der Beerdigung fragte ich Monsieur Ibrahim:
    »Seit wann haben Sie das mit meinem Vater gewußt, Monsieur Ibrahim?«
    »Seit Cabourg. Aber hör mal, Momo, du darfst deinem Vater nicht böse sein.«
    »Ah ja? Und wieso? Ein Vater, der mir das Leben vermasselt, der mich verläßt und sich umbringt, das macht verdammt viel Mut zum Leben. Und dem soll ich nicht böse sein?«
    »Dein Vater hatte kein Vorbild. Er hat sehr jung seine Eltern verloren, sie wurden von den Nazis abgeholt und sind in den Lagern umgekommen. Dein Vater hat es nie überwinden können, all dem entkommen zu sein. Er hat sich Vorwürfe gemacht, überlebt zu haben. Nicht umsonst hat er sich vor einen Zug geworfen.«
    »Und warum?«
    »Seine Eltern sind mit einem Zug in den Tod deportiert worden. Und seit langem hat er vielleicht nach seinem Zug gesucht... Wenn er keine Kraft mehr zum Leben hatte, dann nicht deinetwegen, Momo, sondern wegen alldem, was vor dir gewesen oder nicht gewesen ist.«
    Dann steckte mir Monsieur Ibrahim ein paar Scheine zu.
    »Da, geh in die Rue de Paradis. Die Mädchen fragen sich, wie weit du mit deinem Buch über sie bist...«
    Ich fing an, die gesamte Wohnung in der Rue Bleue zu verändern. Monsieur Ibrahim gab mir ein paar Töpfe mit Farbe und Pinsel. Er gab mir außerdem Tips, wie man die Frau auf dem Jugendamt in den Wahnsinn treibt, um so Zeit zu gewinnen.
    Eines nachmittags, als ich alle Fenster aufgemacht hatte, damit der Gestank der Farbe verfliegt, kam eine Frau in die Wohnung.
    Ich weiß nicht warum, aber ihre Scheu, ihr Zögern, ihre Art, sich nicht zu trauen, zwischen den Leitern durchzugehen, und die Farbkleckse auf dem Fußboden zu vermeiden, hat mir sofort klargemacht, wer sie war.
    Ich tat so, als wäre ich sehr in meine Arbeit vertieft.
    Schließlich räusperte sie sich leicht.
    Ich mimte den Überraschten.
    »Sie suchen?«
    »Ich suche Moses«, sagte meine Mutter.
    Merkwürdig, was für Schwierigkeiten sie hatte, diesen Namen auszusprechen, als wollte er ihr nicht über die Lippen gehen.
    Ich machte mir einen Spaß daraus, sie an der Nase rumzuführen.
    »Wer sind Sie?«
    »Ich bin seine Mutter.«
    Die arme Frau, sie tut mir leid. In einem Zustand ist die. Es muß sie eine mächtige Überwindung gekostet haben, hierher zu kommen. Sie schaut mich nachdrücklich an, versucht in meinem Gesicht zu lesen. Sie hat Angst, große Angst.
    »Und du, wer bist du?«
    »Ich?«
    Ich habe große Lust zu lachen. Eine solche Situation auf sich zu nehmen, und das nach dreizehn Jahren.
    »Man nennt mich Momo.«
    Ihr Gesicht zerfällt.
    Grinsend füge ich hinzu:
    »Der Spitzname für Mohammed.«
    Sie wird noch blasser als die Fußleisten.
    »Was? Du bist nicht Moses?«
    »Oh nein. Nur keine Verwechslung, Madame. Ich bin Mohammed.«
    Sie schluckt. Im Grunde ist ihr das gar nicht so unangenehm.
    »Aber wohnt hier nicht ein Junge, der Moses heißt?«
    Ich will ihr antworten: Ich weiß es nicht, Sie sind doch seine Mutter, Sie sollten es wissen. Aber im letzten Moment halte ich mich zurück, weil die arme Frau ziemlich wacklig auf den Beinen zu sein scheint. Statt dessen tische ich ihr eine hübsche, kleine und viel bequemere Lüge auf.
    »Moses ist weg, Madame. Er hatte die Nase voll. Er denkt nicht gern an hier zurück.«
    »Ah so?«
    Na ja, ich frage mich, ob sie mir glaubt. Sie scheint nicht überzeugt zu sein. Vielleicht ist sie doch nicht so blöd.
    »Und wann kommt er zurück?«
    »Keine Ahnung. Als er ging, sagte er, er wolle seinen Bruder suchen.«
    »Seinen Bruder?«
    »Ja, Moses hat einen Bruder.«
    »Ach ja?«
    Sie scheint völlig aus der Fassung zu sein.
    »Ja, seinen Bruder Popol.«
    »Popol?«
    »Ja, Madame, Popol, seinen älteren Bruder.«
    Ich frage mich, ob sie mich jetzt nicht für völlig schwachsinnig hält. Oder glaubt sie wirklich, daß ich Mohammed bin?
    »Aber vor Moses hatte ich kein Kind. Ich habe niemals einen Popol gehabt.«
    Und da fang ich an, mich mies zu fühlen.
    Sie merkt es, sie bekommt dermaßen weiche Knie, daß sie in einem
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