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Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran

Titel: Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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sein hat mit Gott nichts zu tun?«
    »Für mich nicht mehr. Jude zu sein bedeutet einfach, Erinnerungen zu haben. Schlechte Erinnerungen.«
    Und dabei machte er ein Gesicht, als hätte er ein paar Aspirin nötig. Vielleicht, weil er mal ausnahmsweise gesprochen hatte. Er stand auf und ging direkt ins Bett.
    Einige Tage später kam er noch blasser nach Hause als gewöhnlich. Ich fing an, mich schuldig zu fühlen. Ich sagte mir, mit dem Scheiß, den ich ihm zu essen gebe, hätte ich seine Gesundheit ruiniert.
    Er setzte sich hin und gab mir zu verstehen, daß er etwas zu sagen hatte. Was ihm aber erst nach zehn Minuten gelang.
    »Man hat mich rausgeschmissen, Moses. Man will mich nicht mehr haben in der Kanzlei, wo ich arbeite.«
    Nun, sehr erstaunt hat mich das nicht, daß man keine Lust hatte, mit meinem Vater zu arbeiten - bestimmt hat er die Verbrecher deprimiert -, aber gleichzeitig wäre es mir nie in den Sinn gekommen, daß ein Anwalt aufhören könnte, ein Anwalt zu sein.
    »Ich werde Arbeit suchen müssen. Anderswo. Wir werden den Gürtel enger schnallen müssen, mein Kleiner.«
    Er ging ins Bett. Offensichtlich interessierte es ihn nicht, wie ich darüber dachte.
    Ich ging runter zu Monsieur Ibrahim, der lächelnd ein paar Erdnüsse kaute.
    »Wie schaffen Sie es, Monsieur Ibrahim, glücklich zu sein?«
    »Ich weiß, was in meinem Koran steht.«
    »Vielleicht sollte ich Ihnen eines Tages Ihren Koran klauen. Aber als Jude darf man das ja nicht.«
    »Hhm. Was bedeutet es denn für dich, Momo, ein Jude zu sein?«
    »Tja, ich weiß nicht. Für meinen Vater bedeutet das, den ganzen Tag lang deprimiert zu sein. Für mich... nur etwas, das mich daran hindert, etwas anderes zu sein.«
    Monsieur Ibrahim gab mir eine Erdnuß.
    »Deine Schuhe sind hinüber, Momo. Wir gehen dir morgen ein Paar neue kaufen.«
    »Ja, aber...«
    »Ein Mensch verbringt sein Leben in nur zwei Stätten: Entweder in seinem Bett oder in seinen Schuhen.«
    »Ich habe kein Geld, Monsieur Ibrahim.«
    »Ich werde sie bezahlen. Ein Geschenk von mir. Momo, du hast nur ein Paar Füße, man muß auf sie aufpassen. Drücken dich die Schuhe, wechsle sie. Füße kann man nicht wechseln.«
    Als ich am nächsten Tag aus der Schule kam, fand ich auf dem Boden der dunklen Diele einen Zettel. Ich weiß nicht, warum mein Herz sofort wie wild zu schlagen anfing, als ich die Schrift meines Vaters erkannte:
    Moses, es tut mir leid, ich bin weg. Ich kann einfach kein richtiger Vater sein. Popo...
    Dann war was durchgestrichen. Ohne Zweifel hat er mir einen Satz über Popol hinschmieren wollen. In der Art wie: »mit Popol hätte ich es geschafft, aber nicht mit dir« oder: »Popol hätte mir Kraft und Energie gegeben, ein Vater zu sein, aber du nicht«, kurz, irgendeine Sauerei, die er sich dann doch nicht getraut hat, aufzuschreiben. Aber ich hatte schon verstanden. Danke. 
    Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder, später, wenn Du erwachsen bist. Wenn ich mich nicht mehr so schämen muß und Du mir verziehen hast. Lebwohl.
    Genau, Lebwohl! 
    P. S. Ich habe alles Geld, was ich noch hatte, auf den Tisch gelegt. Hier noch die Liste mit den Leuten, die Du von meiner Abreise benachrichtigen mußt. Sie werden sich um Dich kümmern. 
    Es folgte eine Liste mit vier Namen, die ich nicht kannte.
    Ich faßte einen Entschluß. Weiter tun als ob.
    Es kam gar nicht in Frage, daß ich zugebe, verlassen worden zu sein. Zweimal verlassen, einmal nach meiner Geburt von meiner Mutter, das zweite Mal als Heranwachsender von meinem Vater. Würde das bekannt, gäbe mir niemand mehr eine Chance. Was war nur so abscheulich an mir? Was war bloß an mir, daß man mich nicht liebhaben konnte? Meine Entscheidung war unwiderruflich: Ich werde die Anwesenheit meines Vaters vortäuschen. Ich werde so tun, als würde er weiter hier wohnen, essen, zusammen mit mir seine langen, langweiligen Abende verbringen.
    Daher zögerte ich keine Sekunde: Ich ging runter in den Laden.
    »Monsieur Ibrahim, mein Vater hat Verdauungsprobleme. Haben Sie was dagegen?«
    »Fernet Branca, Momo. Hier hast du ein Taschenfläschchen.«
    »Danke. Ich geh gleich wieder rauf und geb's ihm.«
    Mit dem Geld, das er mir dagelassen hatte, konnte ich einen Monat lang auskommen. Ich brachte mir bei, seine Unterschrift nachzumachen, um die wichtigsten Briefe zu beantworten, z.B. die aus der Schule. Ich kochte weiterhin für zwei, stellte jeden Abend seinen Teller mir gegenüber hin; nur, daß ich nach dem Essen seine
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