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Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran

Titel: Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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habe ich das nicht gemeint. Glauben Sie, daß ich mal schön genug sein werde, um den Mädchen zu gefallen..., ohne zu bezahlen?«
    »In ein paar Jahren werden sie für dich zahlen!«
    »Aber... im Moment... ist der Markt eher ruhig...«
    »Natürlich, Momo. Merkst du denn nicht, was du machst? Du starrst sie mit Augen an, die sagen: Seht ihr nicht, wie schön ich bin? Also machen sie sich lustig über dich. Du mußt sie mit Augen anschauen, die sagen: Eine Schönere als Sie habe ich noch nie gesehen! Für einen normalen Mann, ich meine einen Mann wie dich und mich - nicht einen Alain Delon oder Marlon Brando -, ist die eigene Schönheit einzig die, die er in der Frau erkennt.«
    Wir schauten zu, wie sich die Sonne zwischen den Bergen verlor und der Himmel sich lila färbte. Papa schaute hoch zum Abendstern.
    »Für jeden von uns, Momo, ist eine Leiter aufgestellt, damit wir entfliehen können. Der Mensch war zuerst etwas Mineralisches, dann etwas Pflanzliches, dann etwas Tierisches - das Tiersein kann er nicht vergessen, und allzuoft verspürt er den Drang, sich wieder in ein Tier zu verwandeln -, erst dann ist er zum Menschen geworden, mit der Anlage zum Wissen, zur Vernunft, zum Glauben. Kannst du dir den Weg vorstellen, den du vom Staubkorn bis zum heutigen Tag zurückgelegt hast? Und später, wenn du dein Menschsein verlassen hast, wirst du zu einem Engel. Dann hast du mit der Erde nichts mehr zu tun. Wenn du tanzt, bekommst du eine Ahnung davon.«
    »Naja. Davon weiß ich jedenfalls nichts mehr. Können Sie sich denn noch daran erinnern, Monsieur Ibrahim, daß Sie mal eine Pflanze waren?«
    »Was glaubst du, tue ich, wenn ich stundenlang im Laden, ohne mich zu bewegen, auf meinem Stühlchen hocke?«
    Dann kam der berühmte Tag, an dem Monsieur Ibrahim zu mir sagte, daß wir sein Geburtsmeer erreichen und seinen Freund Abdullah treffen würden. Er war ganz aufgeregt, wie ein junger Mann, er wollte zuerst allein hinfahren, um sich umzusehen, er bat mich, unter einem Olivenbaum auf ihn zu warten.
    Es war die Zeit der Siesta. Ich schlief an den Baum gelehnt ein.
    Als ich wieder erwachte, war es bereits dunkel. Bis Mitternacht wartete ich auf Monsieur Ibrahim.
    Ich ging zu Fuß ins nächste Dorf. Wie ich dort auf dem Dorfplatz ankam, stürzten Leute auf mich zu. Ich verstand ihre Sprache nicht, aber sie redeten ganz hektisch auf mich ein, sie schienen mich bestens zu kennen. Sie brachten mich in ein großes Haus. Dort durchquerte ich einen riesigen Raum, in dem mehrere Frauen hockten und klagten. Dann führte man mich zu Monsieur Ibrahim.
    Er lag da, übersät von vielen Wunden, Flecken, Blut. Der Wagen war gegen eine Mauer gefahren.
    Er sah ganz schwach aus.
    Ich warf mich über ihn. Er machte die Augen auf und lächelte.
    »Momo, hier ist die Reise zu Ende.«
    »Aber nein, noch sind wir nicht an Ihrem Geburtsmeer angekommen.«
    »Doch, ich bin angekommen. Alle Arme des einen Flusses münden im gleichen Meer. Im einzigen Meer.«
    Und gegen meinen Willen fing ich an zu weinen.
    »Momo, ich bin nicht zufrieden.«
    »Ich habe Angst um Sie, Monsieur Ibrahim.«
    »Ich habe keine Angst, Momo. Ich weiß, was in meinem Koran steht.«
    Diesen Satz hätte er nicht sagen sollen, denn der weckte schöne Erinnerungen in mir und ich habe noch mehr geheult.
    »Momo, du weinst um dich, nicht um mich. Ich habe ein gutes Leben gehabt. Ich habe ein schönes Alter erreicht. Ich habe eine Frau gehabt, die vor vielen Jahren gestorben ist, die ich aber noch immer liebe. Ich habe meinen Freund Abdullah gehabt, den du von mir grüßen mußt. Mein kleiner Laden ist gut gelaufen. Die Rue Bleue ist eine hübsche Straße, auch wenn sie nicht blau ist. Und außerdem hatte ich dich.«
    Um ihm eine Freude zu machen, unterdrückte ich all meine Tränen, ich gab mir Mühe, und zack: Lächeln!
    Er war zufrieden. Es war, als würde er weniger leiden.
    Zack: Lächeln!
    Langsam schloß er die Augen.
    »Monsieur Ibrahim!«
    »Psst..., mach dir keine Sorgen. Ich sterbe nicht, Momo. Ich gehe nur ein in die Unendlichkeit.«
    Das war es. 
     
    Ich bin noch eine Weile geblieben. Abdullah, sein Freund, und ich, wir haben viel über Papa geredet. Und wir haben uns auch viel gedreht.
    Monsieur Abdullah war ein bißchen wie Monsieur Ibrahim, ein sehr verschrumpelter Monsieur Ibrahim, der viele seltene Worte wußte, Gedichte auswendig konnte, ein Monsieur Ibrahim, der mehr Zeit mit Lesen verbracht hatte als damit, seine Kasse klingeln zu lassen. Die Stunden, die
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