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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan
Autoren: Paul Auster
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spielte der Schnitt dieses Kleidungsstücks kaum eine Rolle. Hätte Victor mir einen lila Laffenanzug geschenkt, würde ich ihn zweifellos im selben Geist getragen haben wie den Tweed. Als im Frühjahr der Unterricht endete, schlug mein Mitbewohner vor, wir sollten uns im nächsten Jahr eine Wohnung teilen; ich lehnte ab. Ich mochte Zimmer durchaus (tatsächlich war er mein bester Freund), aber nach vier Jahren Wohnheim und Stubengenossen konnte ich der Versuchung, einmal allein zu leben, einfach nicht widerstehen. Ich fand dann die Wohnung an der West 112th Street, wo ich am 14, Juni mit meinen Koffern einzog, nur wenige Augenblicke bevor zwei kräftige Männer die sechsundsiebzig Kartons mit Onkel Victors Büchern ablieferten, die während der letzten neun Monate in einem Lager untergebracht gewesen waren. Es war eine Atelierwohnung im vierten Stock eines großen Gebäudes mit Aufzug: ein mittelgroßer Raum mit Kochnische in der Südostecke, einem Wandschrank, einem Badezimmer und zwei Fenstern mit Blick auf eine Gasse. Auf dem Sims gurrten Tauben und schlugen mit den Flügeln, unten auf der Straße standen sechs verbeulte Mülltonnen. Drinnen herrschten Grautöne vor und verbreiteten eine stets trübe Stimmung, die auch an den sonnigsten Tagen allenfalls dürftig aufhellte. Anfangs gab es mir manchen Stich, jagte mir manch ängstliche Beklemmung ein, so ganz allein zu leben, aber dann machte ich eine eigenartige Entdeckung, die mir half, mich mit der Wohnung anzufreunden und mich darin einzuleben. In der zweiten oder dritten Nacht stand ich einmal ganz zufällig zwischen den beiden Fenstern, ein wenig schräg dem linken zugewandt. Ich ließ meinen Blick leichthin in diese Richtung wandern, und plötzlich bemerkte ich zwischen den zwei Gebäuden im Hintergrund einen schmalen Durchlaß. Ich sah auf den Broadway, einen sehr kleinen, stark verkürzten Teil des Broadway, und das Bemerkenswerte daran war, daß die gesamte Aussicht, die ich darauf hatte, von einem Neonlicht, einer leuchtenden Fackel aus rosa und blauen Buchstaben ausgefüllt wurde, die das Wort MOON PALACE bildeten. Ich erkannte darin die Reklame des chinesischen Restaurants am Ende des Blocks, aber die Gewalt, mit der dieses Wort mich bestürmte, verdrängte jegliche Verbindung oder Beziehung zur Realität. Es waren magische Buchstaben, die dort im Dunkel hingen wie eine Botschaft des Himmels. MOON PALACE. Ich mußte sofort an Onkel Victor und seine Band denken, und in diesem ersten, irrationalen Augenblick verloren meine Ängste ihre Macht über mich. Etwas derart Plötzliches und Absolutes hatte ich noch nie erlebt. Ein kahler und schmuddeliger Raum hatte sich in eine Stätte der Innerlichkeit verwandelt, in einen Kreuzungspunkt seltsamer Vorzeichen und rätselhafter Zufälligkeiten. Noch lange starrte ich die Leuchtreklame des Moon Palace an, und allmählich begriff ich, daß ich am rechten Ort gelandet war, daß ich in genau dieser kleinen Wohnung leben wollte.
    Den Sommer über arbeitete ich halbtags in einem Buchladen, ging oft ins Kino und liierte und entzweite mich mit einem Mädchen namens Cynthia, dessen Gesicht schon längst aus meiner Erinnerung verschwunden ist. In meiner neuen Wohnung fühlte ich mich mehr und mehr zu Hause, und als im Herbst wieder der Unterricht begann, stürzte ich mich in hektische Vergnügungen, trank nächtelang mit Zimmer und meinen Freunden, jagte nach Liebesabenteuern und feierte lange, vollkommen stumme Lern- und Leseorgien. Viel später, als ich aus der Distanz der Jahre auf all das zurückblickte, wurde mir klar, wie fruchtbar diese Zeit für mich gewesen war.
    Dann wurde ich zwanzig, und nur wenige Wochen danach erhielt ich einen langen, nahezu unverständlichen Brief von Onkel Victor, mit Bleistift auf die Rückseite gelber Bestellscheine für die Humboldt Encyclopedia geschrieben. Soweit ich daraus schlau werden konnte, waren die Moon Men in arge Schwierigkeiten geraten und nach einer ausgedehnten Pechsträhne (geplatzte Engagements, Reifenpannen, ein Betrunkener, der dem Saxophonisten die Nase eingeschlagen hatte) schließlich auseinandergegangen. Seit November lebte Onkel Victor in Boise, Idaho, wo er als Vertreter für Lexika eine vorübergehende Arbeit gefunden hatte. Aber das brachte nicht viel ein, und zum erstenmal in all den Jahren, die ich ihn kannte, vernahm ich so etwas wie Mutlosigkeit in Victors Worten. «Meine Klarinette ist im Pfandhaus», hieß es in dem Brief, «mein Bankkonto steht auf
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