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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan
Autoren: Paul Auster
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bis dahin hatte die Gefahr nur in weiter Ferne gelauert, und ich hatte keinen ernsthaften Gedanken daran verschwendet. In den schrecklichen Tagen nach Onkel Victors Tod hatte ich jedoch Tausende von Dollars ausgegeben, so daß der Vorrat, der mich durch die Collegezeit begleiten sollte, arg zusammengeschrumpft war. Falls ich nicht irgend etwas unternahm, die Summe zu ersetzen, würde es nicht bis zum Ende reichen. Wenn ich das Geld weiter im gegenwärtigen Tempo ausgäbe, rechnete ich mir aus, wären meine Mittel im November meines letzten Studienjahres erschöpft. Und zwar vollständig, bis auf den allerletzten Penny.
    Mein erster Gedanke war, das College zu verlassen, aber nachdem ich ein paar Tage mit diesem Gedanken gespielt hatte, besann ich mich eines Besseren. Ich hatte meinem Onkel versprochen, das Examen zu machen, und da er nun nicht mehr da war, um irgendeine Änderung meiner Pläne gutheißen zu können, glaubte ich mein Wort nicht einfach brechen zu dürfen. Dazu kam das Problem der Einberufung. Wenn ich jetzt vom College abginge, würde meine studienbedingte Zurückstellung aufgehoben, und die Vorstellung, einem frühen Tod in den Dschungeln Asiens entgegenzumarschieren, gefiel mir überhaupt nicht. Also würde ich in New York bleiben und weiter auf die Columbia University gehen. Eine vernünftige Entscheidung, das einzig Richtige. Nach einem so verheißungsvollen Beginn hätte es mir eigentlich nicht schwerfallen sollen, vernünftig weiterzumachen. Leuten in meiner Lage boten sich allerhand Möglichkeiten - Stipendien, Darlehen, kombinierte Studien- und Arbeitsprogramme -, doch als ich darüber nachzudenken begann, fühlte ich mich ziemlich angewidert. Es handelte sich um eine jähe, unwillkürliche Reaktion, einen heftigen Anfall von Ekel. Ich wollte an alldem nicht teilhaben, erkannte ich, und wies es daher in Bausch und Bogen von mir - stur, verächtlich, im klaren Bewußtsein der Tatsache, daß ich soeben meine einzige Hoffnung, die Krise zu überstehen, zunichte gemacht hatte. Von da an unternahm ich nichts mehr, um mir selbst zu helfen, weigerte mich, auch nur einen Finger zu rühren. Weiß der Himmel, warum ich mich so angestellt habe. Damals ersann ich zahllose Rechtfertigungen, aber am Ende war es doch wohl nichts anderes als Verzweiflung. Ich war verzweifelt, zutiefst aufgewühlt, und hielt irgendein drastisches Vorgehen für angebracht. Ich wollte der Welt ins Gesicht spucken, etwas so Ausgefallenes wie nur möglich machen. Und mit dem ganzen Eifer und Idealismus eines jungen Mannes, der zuviel nachgedacht und zu viele Bücher gelesen hatte, beschloß ich dann, gar nichts zu unternehmen: Meine Tat würde ein militantes Verweigern jeglicher Tat sein. Das war ein zur ästhetischen Lehre verklärter Nihilismus. Ich wollte mein Leben zu einem Kunstwerk machen, mich selbst solch hochgradigen Widersprüchen aussetzen, daß jeder Atemzug mich lehren würde, mein Verhängnis auszukosten. Die Zeichen wiesen auf totale Finsternis, und sosehr ich nach einer anderen Interpretation tastete, so sehr lockte mich die Vorstellung dieser Finsternis und verführte mich allmählich durch die Schlichtheit ihres Gefüges. Ich wollte nichts tun, um dem Unausweichlichen zu entrinnen, wollte mich aber auch nicht hineinstürzen. Wenn das Leben fürs erste so weiterginge wie früher, dann um so besser. Ich würde geduldig sein und unerschütterlich durchhalten. Ich wußte eben einfach, was mich erwartete, und ob es nun heute passierte oder morgen, war egal; passieren würde es jedenfalls. Totale Finsternis. Das Opfertier war geschlachtet, seine Eingeweide gedeutet. Der Mond würde sich vor die Sonne schieben, und genau da würde ich verschwinden. Ich wäre vollkommen pleite, ein Stück Treibgut aus Fleisch und Knochen ohne einen einzigen Cent.
    Damals begann ich, Onkel Victors Bücher zu lesen. Zwei Wochen nach der Beerdigung nahm ich mir wahllos einen der Kartons vor, schlitzte mit einem Messer vorsichtig das Klebeband auf und las alles, was ich darin fand. Es war eine seltsame Mischung, anscheinend ohne bestimmte Ordnung oder Absicht zusammengepackt. Romane und Schauspiele, Geschichtsbücher und Reisebücher, Schachlehrbücher und Krimis, Sciencefiction und philosophische Werke - ein vollkommenes Durcheinander von Gedrucktem. Mir war das einerlei. Ich las jedes Buch bis zum Ende und weigerte mich, ein Urteil darüber zu fallen. Für mich war jedes Buch jedem anderen Buch gleichwertig, bestand jeder Satz aus genau
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