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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan
Autoren: Paul Auster
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Null, und die Einwohner von Boise sind an Enzyklopädien nicht interessiert.»
    Ich kabelte meinem Onkel Geld, dann drängte ich ihn in einem Telegramm, nach New York zu kommen. Einige Tage später dankte Victor mir für die Einladung. Ende der Woche werde er seine Geschäfte abschließen, schrieb er, und dann den nächsten Bus nehmen. Ich rechnete mir aus, daß er Dienstag, spätestens Mittwoch eintreffen würde. Aber der Mittwoch kam und ging, ohne daß Victor auftauchte. Ich schickte ein weiteres Telegramm, erhielt aber keine Antwort. Ich stellte mir Katastrophen in Hülle und Fülle vor. Ich malte mir aus, was einem Mann zwischen Boise und New York alles zustoßen konnte, und mit einem mal war der ganze amerikanische Kontinent eine riesige Gefahrenzone, ein böser Alptraum aus Fallen und Labyrinthen. Ich versuchte den Inhaber von Victors Pension ausfindig zu machen, jedoch vergeblich; und dann blieb mir nur noch, die Polizei in Boise anzurufen. Sorgfältig erklärte ich mein Problem dem Sergeant am anderen Ende, einem Mann namens Neil Armstrong. Tags darauf rief Sergeant Armstrong zurück. Onkel Victor war in seinem Zimmer an der North 12th Street tot aufgefunden worden - zusammengesunken auf einem Stuhl, im Mantel, die Finger der rechten Hand hielten eine halb zusammengesetzte Klarinette umklammert. Neben der Tür hatten zwei gepackte Koffer gestanden. Der Raum wurde untersucht, doch konnten die Beamten keinen Hinweis auf ein Verbrechen entdecken. Dem Vorbericht des Leichenbeschauers zufolge war die wahrscheinliche Todesursache ein Herzinfarkt. «Pech, mein Junge», sagte der Sergeant noch, «tut mir wirklich leid.»
    Am nächsten Morgen flog ich nach Westen, um das Nötige zu veranlassen. Ich identifizierte Victor im Leichenschauhaus, beglich seine Schulden, unterschrieb Papiere und Formulare, traf Vorbereitungen für den Transport der Leiche nach Chicago. Der Bestattungsunternehmer von Boise war über den Zustand der Leiche verzweifelt. Nachdem sie fast eine Woche lang in dem Zimmer gelegen hatte, war nicht mehr viel damit zu machen. «An Ihrer Stelle», sagte er zu mir, «würde ich keine Wunder erwarten.»
    Telefonisch arrangierte ich die Beerdigung, nahm Verbindung mit einigen Freunden Victors auf (Howie Dunn, dem Saxophonisten mit der gebrochenen Nase, einer Reihe seiner ehemaligen Schüler), unternahm einen halbherzigen Versuch, Dora zu erreichen (sie war nicht aufzufinden), und begleitete schließlich den Sarg nach Chicago zurück. Victor wurde neben meiner Mutter bestattet, es goß in Strömen, als wir dort standen und unseren Freund in der Erde verschwinden sahen. Danach fuhren wir zu Dunns Haus an der North Side, wo Mrs. Dunn ein bescheidenes Mahl aus kaltem Aufschnitt und heißer Suppe vorbereitet hatte. Ich hatte die letzten vier Stunden ununterbrochen geweint und kippte jetzt beim Essen fünf oder sechs doppelte Bourbons in mich hinein. Dies hellte meine Laune beträchtlich auf, und nach etwa einer Stunde begann ich mit lauter Stimme zu singen. Howie begleitete mich auf dem Piano, und eine Weile ging es ziemlich wüst her auf der Versammlung. Als ich mich dann auf den Boden erbrach, war der Zauber gebrochen. Um sechs Uhr verabschiedete ich mich und taumelte in den Regen hinaus. Zwei Stunden lang irrte ich blindlings umher, erbrach mich noch einmal vor einer Haustür und traf dann in einer neonhellen Straße unter einem Schirm eine dünne grauäugige Prostituierte namens Agnes. Ich begleitete sie auf ihr Zimmer im Eldorado Hotel, hielt ihr einen kurzen Vortrag über die Gedichte von Sir Walter Raleigh und sang ihr Schlaflieder vor, während sie sich auszog und die Beine spreizte. Sie sagte, ich sei wahnsinnig, doch als ich ihr hundert Dollar gab, hatte sie nichts mehr dagegen, die Nacht mit mir zu verbringen. Ich schlief freilich schlecht, und um vier Uhr morgens schlüpfte ich aus dem Bett, stieg in meine feuchten Kleider und nahm ein Taxi zum Flughafen. Um zehn Uhr war ich wieder in New York.
    Trauer war am Ende nicht das Problem. Sie war vielleicht die erste Ursache, wich jedoch bald etwas anderem - etwas Greifbarerem, in seinen Auswirkungen besser Berechenbarem, heftiger Zersetzendem. Eine ganze Kette von Gewalten war in Gang gesetzt worden, und irgendwann geriet ich ins Taumeln, flog in immer größeren Kreisen um mich selbst, bis ich am Ende aus der Umlaufbahn trudelte.
    Mit einem Wort, meine finanzielle Situation verschlechterte sich. Mir war das schon seit einiger Zeit bewußt gewesen, doch
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