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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan
Autoren: Paul Auster
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dazu. Auch wenn du nicht oft von mir hören wirst, Phileas, denk immer daran, daß ich in Gedanken bei dir bin. Ich würde ja selbst gern wissen, wo ich landen werde, aber uns beiden winken jetzt plötzlich neue Welten, und ich bezweifle, daß wir viel Gelegenheit haben werden, Briefe zu schreiben.» Onkel Victor unterbrach sich, um sich eine neue Zigarette anzuzünden, und ich sah seine Hand mit dem Streichholz zittern. «Niemand weiß, wie lange das gehen wird», fuhr er fort, «aber Howie ist sehr optimistisch. Wir haben schon eine Menge Buchungen, und zweifellos werden noch mehr dazukommen. Colorado, Arizona, Nevada, Kalifornien. Wir schlagen uns Richtung Westen durch, stürzen uns in die Wildnis. Dürfte ganz interessant werden, egal was dabei rauskommt. Eine Bande Großstadtpinkel im Land der Cowboys und Indianer. Aber mir gefällt der Gedanke an dieses weite Land, der Gedanke, unterm Wüstenhimmel meine Musik zu spielen. Wer weiß, vielleicht enthüllt sich mir da draußen eine neue Wahrheit?»
    Onkel Victor lachte, wie um diesem Gedanken ein Stück von seiner Ernsthaftigkeit zu nehmen. «Es geht darum», begann er wieder, «daß ich auf so großen Strecken nur mit leichtem Gepäck reisen kann. Ich muß alles mögliche ausrangieren, weggeben, auf den Müll werfen. Aber die Vorstellung, daß all das für immer verschwindet, tut mir weh, und deshalb sollst du die ganzen Sachen haben. Wem kann ich denn sonst vertrauen? Wer sonst könnte die Tradition weiterführen? Mit den Büchern geht es los. Ja, ja, alle miteinander. Was mich betrifft, könnte der Augenblick dafür gar nicht günstiger sein. Als ich sie heute nachmittag gezählt habe, kam ich auf eintausendvierhundertzweiundneunzig Bände. Eine vorteilhafte Zahl, finde ich, denn sie erinnert an die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, und dein ehemaliges College ist auch nach Kolumbus benannt. Manche dieser Bücher sind groß, manche klein, manche sind dick, andere dünn - doch alle enthalten sie Worte. Die Lektüre dieser Worte könnte dir bei deiner Ausbildung nützlich sein. Nein, nein, ich will nichts hören. Keinen Mucks. Wenn du erst mal in New York wohnst, werde ich sie dir schicken lassen. Das doppelte Exemplar von Dante behalte ich, aber alle anderen sollst du haben. Dann das hölzerne Schachspiel. Das magnetische behalte ich, aber das hölzerne nimmst du. Dann die Zigarrenkiste mit den BaseballAutogrammen. Die Club-Spieler der letzten zwei Jahrzehnte sind fast komplett, dazu ein paar Stars und jede Menge kleinere Lichter aus der ganzen Liga. Matt Batts, Memo Luna, Rip Repulski, Putsy Caballero, Dick Drott. Die Namen sind so obskur, daß sie schon deshalb unsterblich sein sollten. Sodann komme ich zu allerlei Krimskrams, Plunder, Kleinzeug. Meine Aschenbecher, Souvenirs aus New York und dem Alamo, die Haydn- und Mozart-Aufnahmen, die ich mit dem Cleveland Orchestra gemacht habe, das Familien-Fotoalbum, die Plakette, die ich als Junge für den Sieg beim landesweiten Musikwettbewerb bekommen habe. Das war 1924, falls du das glauben kannst - vor langer, langer Zeit. Und schließlich sollst du auch den Tweedanzug haben, den ich mir vor ein paar Wintern im Loop gekauft habe. Wo ich hinfahre, werde ich ihn nicht brauchen, und er ist aus feinster schottischer Wolle. Ich habe ihn nur zweimal getragen, und wenn ich ihn der Heilsarmee schenke, landet er doch nur auf dem Rücken irgendeines Trunkenbolds aus der Skid Row. Bei dir ist er viel besser aufgehoben. Du wirst vornehm darin aussehen, und es ist doch kein Verbrechen, wenn man einen guten Eindruck macht, oder? Morgen gehen wir als erstes gleich zum Schneider und lassen ihn ändern.
    Damit wäre für alles gesorgt, denke ich. Die Bücher, das Schachspiel, die Autogramme, der Kleinkram, der Anzug.
    So, nachdem ich mein Königreich abgetreten habe, fühle ich mich zufrieden. Du brauchst mich gar nicht so anzusehen. Ich weiß, was ich tue, und ich bin froh, es getan zu haben. Du bist ein guter Junge, Phileas, und du wirst immer bei mir sein, egal wo ich bin. Fürs erste bewegen wir uns in entgegengesetzte Richtungen. Aber früher oder später werden wir uns wiedersehen, da bin ich ganz sicher. Am Ende gelingt alles, verstehst du, alles fügt sich zusammen. Die neun Kreise. Die neun Planeten. Die neun Innings. Unsere neun Leben. Denk nur mal drüber nach. Es gibt da unendlich viele Verbindungen. Aber für heute abend habe ich genug gequasselt. Es wird spät, der Schlaf ruft nach uns beiden. Komm, gib mir deine
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