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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan
Autoren: Paul Auster
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unauffällig aufzurichten. In der Tat genoß ich es, daß er mich mit solcher Aufmerksamkeit bedachte, und obwohl ich wußte, daß all sein Reden leer und nichtig war, glaubte ein Teil von mir ihm jedes Wort. Anfangs halfen mir Victors Namensdeutungen, die schwierigen ersten Wochen auf meiner neuen Schule zu überstehen. Namen sind am leichtesten angreifbar, und «Fogg» eignete sich für eine Unmenge spontaner Verballhornungen: Fisch und Frosch zum Beispiel, und dazu unzählige meteorologische Anspielungen: Nebelhorn, Matschkopf, Triefmaul. Nachdem mein Nachname erschöpft war, machte man sich über den Vornamen her. Das o am Ende von «Marco» schrie ja förmlich nach Beinamen wie Dumbo, Beppo und Mumbo Jumbo, doch was danach alles kam, übertraf alle Erwartungen. Marco wurde zu Marco Polo; Marco Polo zu Polohemd; Polohemd zu bleiches Hemd; bleiches Hemd zu Bleichgesicht; und Bleichgesicht zu Arschgesicht - eine verblüffende Grausamkeit, die ich fassungslos zur Kenntnis nahm. Letztlich überstand ich diese Anfangsphase meiner Schulzeit, doch hinterließ sie bei mir eine Empfänglichkeit für die unendliche Anfälligkeit meines Namens. Dieser Name verband sich so sehr mit meinem Selbstwertgefühl, daß ich ihn vor weiterem Schaden bewahren wollte. Mit fünfzehn begann ich alle meine Arbeiten mit M. S. Fogg zu unterschreiben, wobei ich großspurig die Götter der modernen Literatur nachahmte, gleichzeitig aber Gefallen daran fand, daß diese Initialen auch «Manuskript» bedeuteten. Onkel Victor billigte diese Kehrtwendung von ganzem Herzen. «Jedermann ist der Autor seines Lebens», sagte er. «Du hast dein Buch noch nicht zu Ende geschrieben. Es ist also noch ein Manuskript. Was könnte passender sein als das?» Mit der Zeit schwand Marco aus dem allgemeinen Gebrauch. Für meinen Onkel war ich Phileas, und als ich aufs College kam, war ich für alle anderen M. S. Ein paar Witzbolde erklärten, diese Buchstaben seien auch die Abkürzung für eine Krankheit, doch inzwischen war mir jede zusätzliche Assoziation oder Ironie, mit der ich mich schmücken konnte, willkommen. Als ich Kitty Wu kennenlernte, gab sie mir etliche andere Namen, aber die waren gewissermaßen ihr persönliches Eigentum, und auch an ihnen erfreute ich mich: zum Beispiel Foggy, was nur bei besonderen Gelegenheiten benutzt wurde, und Cyrano, was mir aus Gründen zuwuchs, die später noch klar werden. Hätte Onkel Victor Kitty Wu noch kennengelernt, würde er es bestimmt zu schätzen gewußt haben, daß Marco auf seine bescheidene Weise endlich in China Fuß gefaßt hatte. Der Klarinettenunterricht kam nicht recht voran (mein Atem machte nicht mit, meine Lippen waren ungeduldig), und bald schon drückte ich mich davor. Baseball fand ich viel verlockender, und mit elf war ich eins von den dünne n amerikanischen Kindern, die überallhin ihren Handschuh mitnehmen und tausendmal am Tag die rechte Faust in die Fanghand stoßen. Baseball half mir an der Schule zweifellos über manche Hürde hinweg, und als ich in jenem ersten Frühjahr der örtlichen Little League beitrat, kam Onkel Victor zu fast allen Spielen, um mich anzufeuern. Im Juli 1958 zogen wir jedoch plötzlich nach Saint Paul, Minnesota («Eine seltene Gelegenheit», sagte Victor und meinte die Stelle als Musiklehrer, die ihm dort angeboten worden war), aber schon im Jahr darauf waren wir wieder in Chicago. Im Oktober kaufte Victor einen Fernseher und erlaubte mir, die Schule zu schwänzen, damit ich den White Sox zusehen konnte, wie sie in sechs Spielen die World Series verloren. Es war das Jahr von Early Wynn und den Go-Go-Sox, von Wally Moon und seinen himmelhohen Homeruns. Wir hielten natürlich zu Chicago, waren aber beide insgeheim froh, als der Mann mit den buschigen Augenbrauen im letzten Spiel einen aus dem Stadion schlug. Mit Beginn der nächsten Saison hielten wir dann wieder zu den Cubs - den lahmen, trotteligen Cubs, der Mannschaft, der unser Herz gehörte. Victor war felsenfest davon überzeugt, daß Baseball bei Tageslicht gespielt werden müsse, und er begrüßte es als moralische Leistung, daß der Kaugummikönig nicht der Perversion des Flutlichts erlegen war. «Wenn ich zu einem Spiel gehe», sagte er, «dann will ich nur das Können der Spieler aufleuchten sehen. Bei diesem Sport muß die Sonne scheinen und Schweiß fließen. Apollos Wagen schwebt im Zenit! Der große Ball leuchtet an Amerikas Himmel!» In diesen Jahren diskutierten wir ausführlich über Leute wie Ernie
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