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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan
Autoren: Paul Auster
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Victors Bericht über die Scheidung war ziemlich wirr, und ich erfuhr nie so ganz, was eigentlich passiert war. Die Rede war unter anderem von geplünderten Bankkonten und zerschlagenem Geschirr, aber dann wurde ein Mann namens George erwähnt, und ich fragte mich, ob der nicht auch damit zu tun haben könnte. Ich bohrte jedoch nicht nach Einzelheiten, denn nachdem die Sache einmal ausgemacht war, schien mein Onkel eher erleichtert als bekümmert darüber, wieder allein zu sein. Victor hatte den Ehekrieg überlebt, aber das bedeutete nicht, daß er keine Wunden zurückbehalten hatte. Sein Äußeres war beunruhigend verwahrlost (fehlende Knöpfe, schmutzige Kragen, ausgefranste Hosen), und selbst seine Witze hatten einen schwermütigen, fast bitteren Beiklang bekommen. Das waren schon schlechte Zeichen, aber noch größere Sorgen bereitete mir sein körperlicher Verfall. Es kam vor, daß er beim Gehen ins Stolpern geriet (ein rätselhaftes Wegknicken der Knie), im Haus an irgendwelche Sachen stieß oder plötzlich nicht mehr wußte, wo er war. Ich wußte, das Leben mit Dora hatte seinen Tribut gefordert, aber da muß noch mehr dahintergesteckt haben. Weil ich meine Besorgnis nicht noch steigern wollte, redete ich mir ein, seine Probleme hätten weniger mit seiner körperlichen als mit seiner geistigen Verfassung zu tun. Vielleicht hatte ich damit sogar recht, aber jetzt im Rückblick fällt es mir schwer, mir vorzustellen, daß die Symptome, die ich in jenem Sommer zum erstenmal bemerkte, in keinem Zusammenhang mit dem Herzinfarkt gestanden haben sollen, dem er drei Jahre später erlag. Victor selbst sagte nichts, aber sein Körper teilte mir verschlüsselt etwas mit, und mir fehlten die Mittel oder das Gespür, diesen Code zu knacken.
    Als ich in den Weihnachtsferien nach Chicago zurückkam, schien die Krise vorüber. Victor hatte viel von seinem Schwung wiedererlangt, und plötzlich war allerhand im Gange. Im September hatten er und Howie Dunn die Moonlight Moods aufgelöst und mit drei jüngeren Musikern - Schlagzeug, Piano und Saxophon - eine neue Band gegründet. Sie nannten sich jetzt The Moon Men und spielten fast nur Eigenkompositionen. Victor schrieb die Texte, Howie die Musik, und alle fünf sangen, gar nicht mal so schlecht. «Keine Evergreens mehr», erklärte mir Victor, als ich kam. «Keine Tanznummern. Keine feuchtfröhlichen Hochzeiten mehr. Schluß mit dem albernen Affentheater; diesmal wollen wir ganz groß rauskommen.» Keine Frage, sie hatten wirklich ein originelles Programm auf die Beine gestellt, und als ich am nächsten Abend eine ihrer Vorstellungen besuchte, kamen mir ihre Stücke wie eine Offenbarung vor - humorvoll und beseelt, ausgelassen und wild; von der Politik bis zur Liebe wurde alles verspottet. Victors Texte wirkten zunächst wie unbeschwerte Liedchen, doch verbarg sich dahinter ein nahezu swiftscher Witz. Spike Jones im Verein mit Schopenhauer, falls so etwas möglich ist. Howie hatte den Moon Men ein Engagement bei einem der Clubs in der Innenstadt von Chicago besorgt, wo sie von Thanksgiving bis zum Valentinstag jedes Wochenende auftraten. Als ich nach Beendigung der Highschool nach Chicago zurückkam, bereiteten sie sich gerade auf eine Tournee vor, und es war sogar die Rede von einer Schallplattenaufnahme bei einer Gesellschaft in Los Angeles. Und hier kam nun die Sache mit Onkel Victors Büchern. Mitte September begann die Tournee, und er wußte nicht, wann er zurück sein würde.
    Es war spätabends, weniger als eine Woche vor meiner Abfahrt nach New York. Victor saß in seinem Sessel am Fenster, arbeitete sich durch ein Päckchen Raleighs und trank Schnaps aus einem billigen Wasserglas. Ich lümmelte auf der Couch, schwebte glücklich auf Wolken von Bourbon und Rauch. Drei oder vier Stunden lang hatten wir über alles mögliche geredet, und jetzt war die Unterhaltung eingeschlafen; jeder von uns hing schweigend seinen Gedanken nach. Onkel Victor zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, blinzelte, als der Rauch an seiner Wange emporkräuselte, und drückte die Kippe in seinem Lieblingsaschenbecher aus, einem Souvenir von der Weltausstellung 1939. Während er mich mit glasiger Zuneigung betrachtete, nahm er einen weiteren Schluck aus seinem Glas, leckte sich die Lippen und stieß einen tiefen Seufzer aus. «Jetzt kommen wir zum unangenehmen Teil», sagte er. «Zum Schluß, zum Abschied, zu den berühmten letzten Worten. Die Zelte abbrechen, sagt man wohl in den Westernfilmen
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