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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan
Autoren: Paul Auster
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Familie gibt es nicht viel zu berichten. Das Personenverzeichnis war klein, und die meisten hatten nur kurze Auftritte. Bis zum elften Lebensjahr lebte ich bei meiner Mutter, dann wurde sie bei einem Verkehrsunfall getötet, in Boston von einem Bus überfahren, der bei Schneefall ins Schleudern geraten war. Ein Vater kam in dem Stück nie vor, es hatte immer nur uns beide gegeben, meine Mutter und mich. Daß sie ihren Mädchennamen benutzte, bewies, daß sie nie verheiratet gewesen war, doch erfuhr ich von meiner unehelichen Geburt erst nach ihrem Tod. Als kleiner Junge kam ich nie auf die Idee, derlei zu hinterfragen. Ich war Marco Fogg, meine Mutter war Emily Fogg, und mein Onkel in Chicago war Victor Fogg. Wir alle hießen Fogg, und es schien mir vollkommen logisch, daß Leute aus ein und derselben Familie denselben Namen trugen. Später erzählte mir Onkel Victor, sein Vater habe ursprünglich Fogelman geheißen; dieser Name sei aber von jemandem im Einwanderungsbüro auf Ellis Island zu Fog verstümmelt worden, Fog mit einem g, wie Nebel, und dies habe der Familie in Amerika als Name gedient, bis 1907 das zweite g hinzugefügt worden sei. Fogel bedeute Vogel, erklärte mir mein Onkel, und mir gefiel die Vorstellung, ein solches Wesen in meinem Innern aufgehoben zu wissen. Ich malte mir aus, irgendeiner meiner kühnen Vorfahren habe tatsächlich fliegen können. Ein Vogel, der durch Nebel fliegt, dachte ich mir, ein riesiger Vogel, der über den Ozean fliegt und erst in Amerika landet.
    Ich besitze kein einziges Bild von meiner Mutter, und es fällt mir schwer, mich an ihr Aussehen zu erinnern. Wenn ich sie im Geiste vor mir sehe, erkenne ich eine kleine dunkelhaarige Frau mit kindlich schmalen Handgelenken und zartgliedrigen weißen Fingern, und manchmal fällt mir dann plötzlich wieder ein, wie gut es tat, von diesen Fingern berührt zu werden. Immer ist sie sehr jung und schön, wenn ich sie sehe, und darin täusche ich mich wohl nicht, denn sie war erst neunundzwanzig oder dreißig, als sie starb. Wir bewohnten in Boston und Cambridge nacheinander eine Reihe von kleinen Wohnungen, und ich glaube, sie arbeitete bei irgendeinem Lehrbuchverlag, doch war ich zu jung, um zu begreifen, was sie dort tat. Ganz deutlich erinnere ich mich daran, daß wir zusammen ins Kino gingen (Western von Randolph Scott, Krieg der Welten, Pinocchio), daß wir im Dunkel des Theaters saßen, uns bei den Händen hielten und eine Schachtel Popcorn leerten. Sie konnte Witze erzählen, über die ich in heiseres Kichern ausbrach, aber das geschah nur selten, wenn die Planeten in günstiger Konjunktion standen. Oft war sie verträumt, ein wenig griesgrämig, und zuweilen spürte ich, daß eine regelrechte Traurigkeit von ihr ausging, als kämpfte sie innerlich gegen eine ungeheure Verwirrung an.
    Als ich älter wurde, ließ sie mich immer öfter mit Babysittern allein zu Hause, doch begriff ich erst viel später, lange nach ihrem Tod, was es mit ihrem häufigen rätselhaften Verschwinden auf sich hatte. Was jedoch meinen Vater angeht, so herrschte dort eine einzige Leere, vorher wie nachher. Es war das einzige Thema, über das mit mir zu reden meine Mutter sich weigerte, und wann immer ich davon anfing, stellte sie sich taub. «Er starb vor sehr langer Zeit», sagte sie allenfalls, «noch vor deiner Geburt.» Nichts im Haus wies auf ihn hin. Kein Foto, nicht einmal ein Name. Da ich mich also an nichts halten konnte, stellte ich ihn mir als dunkelhaarige Version von Buck Rogers vor, als einen Raumfahrer, der in die vierte Dimension geraten war und nicht mehr zurückfand.
    Meine Mutter wurde neben ihren Eltern auf dem Westlawn-Friedhof begraben, und danach zog ich zu meinem Onkel in den Norden von Chicago. Auf vieles aus dieser frühen Zeit kann ich mich nicht mehr besinnen, ich war aber anscheinend ziemlich trübsinnig und vergoß manche Träne, schluchzte mich abends in den Schlaf wie ein jämmerliches Waisenkind in einem Roman aus dem neunzehnten Jahrhundert. Einmal begegnete uns eine törichte Bekannte von Victor auf der Straße und begann zu weinen, als sie mir vorgestellt wurde, tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch und plärrte unaufhörlich, ich sei also das Kind der Liebe der armen Emmie. Mir war dieser Ausdruck völlig neu, doch merkte ich, daß er auf grausige und unheilvolle Dinge anspielte. Als ich Onkel Victor bat, mir das zu erklären, legte er sich eine Antwort zurecht, die ich nie vergessen habe. «Alle Kinder sind
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