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Moloch

Titel: Moloch
Autoren: China Miéville , Michael Moorcock , Paul di Filippo , Geoff Ryman
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lacht leise, als kommentierte er ein Wrestling-Match. Man reagiert auf dieses Spektakel wie auf einen Spielfilm. Es erfüllt den gleichen Zweck.
    Durch alle Reihen setzt eine fließende Bewegung in Richtung der Anzüge ein, wie die Strömung eines Flusses. Alles wirkt sanft und ruhig. Auf dem Spielfeld halten Polizeiwagen Stoßstange an Stoßstange, als würde hier ein Barbecue am Flussufer stattfinden.
    Die Nachrichtensprecher können uns nur das erzählen, was wir ohnehin selbst sehen. Aber irgendwie wird es realer, wenn man Marie sagen hört: »John, es sieht so aus, als würden die Polizisten auf dem Feld sowohl mit den Mannschaftsführern als auch mit dem Sicherheitspersonal konferieren.«
    »Sie stehen vor einem echten Problem, Marie. Wie sollen sie die S.A.S. festnehmen, ohne die Fans zu gefährden?«
    Die laute gurgelnde Stimme meldet sich erneut: »Was denken Sie, wenn Sie uns ansehen? Glauben Sie, alt werden wäre etwas, das wir uns selbst angetan haben? Glauben Sie, Ihnen würde das nicht zustoßen? Glauben Sie, Sie werden nicht hässlich, krank und schwach werden? Glauben Sie, gesunde Ernährung, sportliche Betätigung und medizinische Vorsorge könnte das aufhalten? Wir werden jetzt gehen, aber vergessen Sie nicht: Ihre Kinder beobachten Sie. Und sie lernen. Was Sie uns antun, werden Ihre Kinder Ihnen antun.«
    Die Menge schweigt, niemand bewegt sich. Alles ist ruhig, als hätte das Meer beschlossen zu verstummen. Die Sirenen jaulen immer noch, aber niemand scheint sie zu hören. Die Schutzanzüge marschieren mit den alten Menschen in ihnen die Zwischengänge hinab auf die wartende Rettungsplattform zu.
    Das Unheimlichste dabei: Irgendein Junge hilft einem der S.A.S. hinauf, und ich erkenne, dass die Zuschauer begreifen. Sie haben die ersten Schritte getan, all die Leute in diesem Stadion mit ihren Sojaburgern, Bieren und Mannschaftstrikots. Sie sind schon halb auf dem Weg, sich auf unsere Seite zu schlagen.
    Du bist zu ihnen durchgedrungen, Jazza.
    Die Plattform erwacht brummend zum Leben, hustet und schnauft, neigt sich leicht zur Seite, als sie sich erhebt, so wie wir Alten es alle tun. Aber nachdem sie sich stabilisiert hat, steigt sie gerade in die Höhe.
    Und der Anführer der S. A.S. der im Grunde Jazza ist, steht einfach reglos da. Das Programm erteilt ihm keine Anweisungen, aber es scheint auch so, als wäre seine Aufgabe vollbracht. Er blickt hinauf in den Himmel, wie es Jazza jetzt immer tut, blickt ins Nichts. Er steht wie ein König, der zum Himmel betet, am Bug seines Schiffes und segelt davon.
    O Gott, ich weine schon wieder. Mandy kann mich nicht ansehen. Ein kleiner bitterer Zug gräbt sich in ihre Mundwinkel. »Jazza war Silhouette«, sagt sie.
    » Was?«, fragt Gus.
    Ich möchte es nicht hören, ich möchte nichts erklären oder sagen oder was auch immer, aber ich kann nicht einfach stillsitzen. Mir ist übel, ich fühle mich wie zerschlagen, ich bin wütend. Ich stehe auf und schlurfe davon.
    »Hey, Brewst!«, ruft mir Gus hinterher. »Was hat das zu bedeuten? Brewster?«
    Ich marschiere weiter, ohne zu wissen wohin und warum. Ins Solarium und in den Fitnessraum, in den Garten und in die Bibliothek, aber da gibt es nur Bücher, und zum Schluss bleibt mir nur ein Ziel.
    So kehre ich in Jazzas Zimmer zurück. Der Junge ist immer noch bei ihm, wie er es versprochen hat. »Schwirr ab«, sage ich nur.
    Danach schaue ich Jazza ganz intensiv an. Vielleicht wollte er ja tatsächlich zum endgültig letzten Mal nach Maryland fahren. Auf einen Baum klettern und dort oben bleiben.
    Ich grüble darüber nach, dass wir alles verlieren. Alles, was wir einmal waren, alles, was wir aus uns gemacht haben. Ob wir stark waren, klug oder cool, alles vergeht.
    Jazzas Gesicht ist braun und blau wie eine Landkarte. Er sitzt aufrecht da, aber der Kopf ist ihm in den Nacken gefallen, so dass er mit geöffnetem Mund an die Zimmerdecke starrt. Seine blauen Augen blicken durch mich hindurch ins Nichts, als suchte er die Antwort auf eine Frage, die er bereits vergessen hat.
    Und das ist der Moment, an dem ich mir schließlich eingestehe: Er ist fort. Jazza hat sich schon vor langer Zeit verflüchtigt. Seit Monaten ist nichts mehr von ihm übrig. Also lasse ich ihn los.
     
    Über das, was danach geschah, bin ich mir nicht ganz klar.
    Die Staatsgewalt kehrt zurück und bemüht sich, so zu klingen, als würde sie mich diesmal richtig hart rannehmen wollen. Mr. Unbekannt stellt mir immer wieder die gleichen Fragen.
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