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Moloch

Titel: Moloch
Autoren: China Miéville , Michael Moorcock , Paul di Filippo , Geoff Ryman
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der beiden Reiche erwartet? Nein, natürlich nicht.«
    Gaddis erwiderte nichts, sein hitziger Blick wandte sich von seinem Sohn ab und richtete sich wieder nach Gleiswärts. Ein Zug fuhr vorüber, sein angenehm gutturales Rattern verwandelte die Fensterscheibe in ein grobschlächtiges Trommelfell.
    Diego wagte es, das Unaussprechliche anzuschneiden. »Dad, geht es um das, was mit Mom passiert ist? Fühlst du dich immer noch irgendwie verantwortlich dafür? Befreie dich doch endlich von dieser Last! Bitte! Es war nicht deine Schuld!«
    Überraschenderweise verlor der sonst so reizbare Gaddis einmal nicht völlig die Beherrschung. Vielmehr schien der alte Mann über die Worte nachzudenken und antwortete erst gut eine Minute später ungewohnt ruhig und leise: »Ich erinnere mich an diesen Tag, als wäre es gestern gewesen. Ich habe ihn immer und immer wieder durchlebt. Ein harmloser Ausflug an den Fluss – an diesen verdammten Fluss! Ein kleines Boot, eine wundervolle Frau und ein drei Jahre altes Kind. Sonnenschein und Gelächter, ein Picknick und ein verdammter Narr mit seiner Gitarre. Dann kam Nebel auf, der so dicht war wie Marshmallows. Und dann kam das Schiff, ein Gigant von einem Schiff, das nicht die kleinen Karpfen wahrnahm, die es zermalmen würde. Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass wir alle im Wasser gelandet sind. Nur ich konnte schwimmen, und du hieltest dich an mir fest wie ein kleiner Egel, nur darauf bedacht, dein eigenes Leben zu retten. Wie hätte ich da nach der armen, armen Phonecia tauchen sollen? Du wärst dabei sicherlich ertrunken. Und an deiner Stelle ertrank sie. Und dann waren sie auch schon da, vier Fischerinnen, die tauchten, um ihren triefend nassen Körper an die Oberfläche zu holen und zum Fernen Ufer zu bringen. Vier Fischerinnen, hörst du? Das zeigte, wie schwer die Tugendhaftigkeit ihrer Seele wog! Sie nahmen sie mit in ein Reich, das ich ganz sicher nie zu sehen bekommen werde, und alles wegen meiner Unachtsamkeit, wegen all meiner falschen Entscheidungen, die überhaupt keine Entscheidungen waren!«
    Diego erwiderte nichts auf diese traurige, einseitige Schilderung einer alten Geschichte, und er reagierte auch nicht mit Vorwürfen. Er hatte vor langer Zeit schon Frieden geschlossen mit dem Tod seiner Mutter – wie sollte ein Dreijähriger für eine solche Tragödie verantwortlich sein? Doch er fand keine Möglichkeit, um seinen Vater zu einer ähnlichen Aussöhnung zu bewegen.
    Nach längerem Schweigen stand Diego auf.
    »Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«
    »Nein, überlass mich einfach nur den Bullen.«
    Diego knöpfte seine Jacke zu und merkte, dass sich etwas in seiner Tasche befand.
    »Hier ist eine Ausgabe mit meiner neuesten Geschichte.«
    »Leg sie zu den anderen.«
    Diego legte das Magazin auf einen verstaubten, schwankenden Stapel, dann ging er aus der Wohnung und schloss hinter sich ab.
    Auf dem Gehweg angekommen, verharrte er für einen Moment vor dem alten Baum. Ein Zuhause, ein Ort der Sicherheit, ein erkletterbarer Ausguck, um eingebildete Piratenschiffe zu beobachten, die auf dem Broadway entlangsegelten. Die winterkahlen zerbrechlichen Äste und Zweige schienen jede zukünftige Blüte zu verweigern.
     
    Diegos zuverlässige alte Schreibmaschine, eine Brashear Vestal, bot die sanften elfenbeinernen Oberflächen ihrer Tasten dar wie die empfänglichen Fingerspitzen einer Geliebten, begierig, aus seinen eigenen Fingern all jeden verwirrten Schmerz zu saugen, den der Besuch bei seinem Vater hervorrief, und ihn in Schönheit zu verwandeln. Zurück in seiner Wohnung hatte sich Diego sofort an die Schreibmaschine gesetzt, war die am Vortag geschriebenen Manuskriptseiten durchgegangen, um sich dann sofort wieder von seiner neuesten Fantasiewelt vereinnahmen zu lassen. Jetzt war er bereit, wieder nach besten Kräften und bestem Wissen seinen Teil dazu beizusteuern, um das unbeugsame literarische Vehikel voranzutreiben, das als Kosmogonische Fiktion bekannt war.
    In schreibbereiter Position vor der Maschine – und einer gedrungenen, tickenden Zeituhr, die er aufgedreht hatte, damit er sein Essen mit Volusia nicht vergaß – begann Diego zu komponieren. Er trug noch immer seine Jacke, da es im Zimmer so kalt war wie im Kühlwagen eines Zugs, der tiefgefrorenes Fleisch transportierte. (Auf dem Weg nach oben hatte er vergeblich an Rexall Glyptis’ Tür geklopft, in der Hoffnung seinen Vermieter endlich auf die ausgefallenen Heizkörper
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