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Moloch

Titel: Moloch
Autoren: China Miéville , Michael Moorcock , Paul di Filippo , Geoff Ryman
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rief er: »Vater, ich bin es.«
    Nachdem keine Antwort kam, schloss er auf und ging hinein.
    Ein zusätzlicher Geruch körperlichen Verfalls und von geronnener Milch (Gaddis durfte nur magenschonende Getränke zu sich nehmen) ergänzte den Gestank im Hausflur. Mit einem Blick nahm Diego die unveränderte Einrichtung in sich auf: eine wuchtige Polstergarnitur, die eine ganze Generation alt war; Sofaschoner, mit denen Risse im Bezugsstoff verdeckt wurden; ein rachitischer Holztisch, der nach Steuerbord ausgerichtet war; gerahmte Drucke, die so sentimentale Szenen wie ›Kinder, die von Fischerinnen über den Abgrund geführt werden‹ und ›Bürgermeisterball bei Ennoia‹ zeigten. Insgesamt wirkte alles wie ein Museum des Nutzlosen.
    Gaddis Patchen saß in einem Sessel, der zum geöffneten Fenster hin ausgerichtet war, und schlief. Von der Eingangstür aus war nur sein fast kahl rasierter Kopf zu sehen. Die Heizkörper kämpften vergeblich gegen die eindringende kalte Luft an. Diego stellte sich neben den Sessel. Gaddis hatte sich einen handgestrickten Überwurf umgelegt und schien sich seit dem letzten Besuch noch stärker in seinen eigenen kranken Körper zurückgezogen zu haben. Die Krankheit hatte aus den grauen Gesichtszügen des ältlichen Mannes das menschliche Pendant dessen gemacht, was man sah, wenn eine Crew aus Ingeniatoren einen Kanaldeckel anhob, um die verborgenen Strukturen der Stadt zu erforschen: ein System aus Schaltkreisen, entworfen für eine unansehnliche Funktionalität, gezeichnet durch ständigen Gebrauch und von der Zeit bestraft.
    Diego zog die Decke an den Schultern seines Vaters zurecht, dann machte er leise das Fenster zu. Er setzte sich zu dem leidenden Mann, zündete eine zweite Seraglio an und rauchte sie nachdenklich. Eine Viertelstunde später wachte Gaddis auf, möglicherweise eine Reaktion auf den Tabakrauch. Widerstrebend kniff er die Augen zusammen, aber sobald er Diego erkannte, wurde sein Körper von neuer Energie durchströmt, die allerdings die Folge von Gehässigkeit und nicht von Freude war.
    »Wird auch Zeit, dass du mich mal wieder besuchst! Bring mir Milch! Aber mach sie erst warm!«
    Diego gehorchte stumm. Gaddis nahm ihm mit seiner knorrigen Hand den Becher ab und trank einen Schluck. Milch tropfte vom borstigen Kinn des alten Mannes. Zittrig stellte er den Becher auf dem Tisch gleich neben dem Sessel ab und hätte fast die Tischplatte verfehlt, fing sich aber im letzten Moment noch, ehe ein Unglück geschehen konnte.
    Diego begann mit einer Frage, von der er hoffte, dass sie unverfänglich genug war, um seinen Vater nicht gleich wieder in Wut zu versetzen: »Ist Doktor Teasel heute schon hier gewesen?«
    Gaddis schnaubte verächtlich. »Dieser Quacksalber! Wie soll der mir helfen?«
    »Er gibt dir doch immer noch Schmerztabletten, nicht wahr?«
    »Nur damit du es weißt«, gab sein Vater zurück und deutete mit einer Kopfbewegung nach links, wo Diego ein Päckchen mit Morphiumspritzen stehen sah. »Ich nehme davon so wenig wie möglich. Ich muss wach sein, falls die Pompaten erscheinen. Sie werden mich nicht kampflos bekommen!«
    »Dad, willst du nicht doch ins Krankenhaus gehen? Das Firzaud Memorial in Acht-Neunundfünfzig ist ziemlich gut…«
    »Bah! Bist du wirklich so versessen darauf, dass ich dein klägliches Erbe für etwas völlig Nutzloses verschwende? Du kennst meine Diagnose. Es ist hoffnungslos! Warum soll ich ein Bett belegen, das ein anderer viel nötiger hat? Und abgesehen davon – ist das nicht ein Flusswärts-Krankenhaus? Warum soll ich es den Bullen auch nur im Mindesten erschweren, mich zu finden, wenn meine Zeit gekommen ist? Ganz sicher würde ein solcher Affront den mir vorbestimmten Schmerz noch verstärken!«
    Diego wurde allmählich ungeduldig. »Erstens kannst du nicht mit Sicherheit sagen, Dad, welche Art von Pompaten dich holen wird. Das wird jeder vernünftige Mensch bestätigen. Selbst Mrs. Loblolly findet, ich…«
    »Hast du mit diesem alten Klatschweib über mich gesprochen? Du wirst aufhören, Tratsch über mich zu verbreiten, und du wirst ihr sagen, sie soll sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern! Ich weiß sehr genau, dass ich ein Fraß für die Bullen sein werde!«
    »Dad, es ist verrückte Selbstüberschätzung, so etwas zu sagen! Niemand kann seine eigene Seele beurteilen. Wie kannst du so etwas behaupten? Das ist nur Selbstmitleid und Selbstverachtung. Und weiß irgendjemand, welches Schicksal uns nach dem Tod in einem
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