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Mogelpackung: Roman

Mogelpackung: Roman

Titel: Mogelpackung: Roman
Autoren: Jan Schröter
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gesucht. Während die Polizei ihre Streifenwagen ausschwärmen ließ, fuhren Briegel und er die Straßen der Umgebung ab. Karla kümmerte sich derweil rührend um Gesche. Sie teilte sogar ihr Zimmer mit der Urgroßmutter. Zum einen, weil Gesches Wohnung fürs Erste unbewohnbar war. Zum anderen aber auch, weil man Gesche tatsächlich nicht mehr aus den Augen lassen konnte. Körperlich erschien sie nach wie vor ungebrochen, aber geistig schien sie nun völlig aus der Zeit gefallen zu sein. Es blieb abzuwarten, ob sich das noch mal ändern würde.
    Fredo kehrte ins Haus zurück. Gleich würde Briegel ihn abholen, die Suche ging weiter …

    Fuß und Knöchel schmerzten. Sehen konnte Tim die Verletzung allerdings nicht – in dem Graben, in den er gerutscht war, stand ein dunkler Morast aus Sumpf und Wasser. Die zähe Masse reichte ihm fast bis an die Brust. Trotzdem versuchte er noch einmal, sich irgendwie herauszuwinden. Vergeblich, wie schon bei den unzähligen anderen Anläufen, die er während der Nacht unternommen hatte. Wenigstens sackte er nicht weiter ab. Es war hell geworden. Und es regnete nicht mehr. Das nützte allerdings alles nichts, wenn es ihm nicht gelang, sich zu befreien. Tim probierte es noch einmal, bis er vor Schmerzen schrie und schluchzte. Schwer gab er auf. Ich schaffe es nicht, fuhr es ihm durch den Sinn. Mittlerweile wäre es ihm durchaus recht gewesen, von der Polizei gefunden zu werden. Aber die hatte er anscheinend gründlich abgehängt.
    Tim erinnerte sich an eine Geschichte, die er irgendwo gelesen hatte: Ein Bergsteiger war bei einer Solotour in einen Steinschlag geraten und hatte sich eine Hand so unglücklich zwischen zwei Felsbrocken eingeklemmt, dass er sie nicht mehr freibekam. Der Mann hatte sich schließlich selbst die Hand abgeschnitten und so sein Leben gerettet. Gruselig. Der hat wenigstens ein Messer gehabt, dachte Tim. Er hatte gar nichts. Obwohl ihm ein Messer in seiner Situation auch nicht weiterhelfen würde. Höchstens, um sich die Pulsadern … Ganz gut, dass er kein Messer hatte. Vielleicht, wenn die Schmerzen schlimmer wurden, Hunger und Durst zuschlugen, würde er sich vielleicht ein Messer wünschen … Denk an etwas, beschwor sich der Junge, denk an irgendetwas anderes!
    Plötzlich war das Bild in seinem Kopf. Ein Raddampfer mit qualmendem Schornstein in voller Fahrt:

    »Die ›Schwalbe‹ fliegt über den Eriesee,
    Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee …«

    Sie suchten den ganzen Sonntag über. Vergeblich. Keine Nachricht von Tim. Auch keine über ihn. Karlas Handy steckte in ihrer kleinen Handtasche, und die war mit Marcels Cabrio davongebraust, als sie ihm entkommen war. Aber das Mobilteil des Friedschen Festnetztelefons schleppte sie den ganzen Tag im Haus mit sich herum. Andauernd sah sie auf dem Display nach, ob ihr vielleicht ein Anruf entgangen sei. Niemals hätte sie geglaubt, dass ihr Tim so fehlen könnte. Mein Bruder, dachte Karla, und zum ersten Mal empfand sie ganz bewusst Tim als Teil ihres eigenen Lebens. Nicht nur als einen Alien mit Scheißmusik und stinkendem T-Shirt. Mein Bruder. Wäre Tim nicht mehr da, würde sich ihr Leben verändern. Sich um den Bruder verringern, ärmer, amputiert sein. Ich täusche mich ständig, erkannte das Mädchen. Bei Gesche hatte sie sich auch geirrt. Die tickte zwar nicht mehr sauber, aber sie war im entscheidenden Moment zur Stelle gewesen, weil sie mit dem Herzen gedacht hatte. Davon war Karla überzeugt. Und als sie jetzt zu Gesche hinübersah, die auf dem Wohnzimmersofa ruhte und stillvergnügt Apfelstückchen mümmelte, die Karla ihr geschnitten hatte, wurde das Mädchen das Gefühl nicht los, in einen Zeitspiegel zu blicken – sie erkannte sich selbst in dem alten, faltigen Greisinnengesicht. Das lag nicht bloß am gemeinsamen, silberhellen Augenblau, sondern an der tiefen, inneren Verbindung zwischen ihnen. Einer Verbindung über die Generationen hinweg, die schon immer da gewesen sein musste – Karla hatte es nur nie bemerkt, wie so vieles nicht. Auf Marcel, den Blender, hereingefallen zu sein, erschien ihr jedoch im Vergleich zum Drama um Tim als Bagatelle. Dabei wäre das Erlebnis mit Marcel für Karla noch vor ein paar Tagen dem Weltuntergang gleichgekommen. Alles verändert sich, dachte sie und sprang wie elektrisiert auf: Die Haustür klappte!
    Es war Fredo. Allein, und sein Gesichtsausdruck sagte alles – nichts gefunden, nichts gehört. Trotzdem fragte Karla angespannt:
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