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Mogelpackung: Roman

Mogelpackung: Roman

Titel: Mogelpackung: Roman
Autoren: Jan Schröter
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blass aus und schien den Tränen nah.
    »Fredo, das mit Tim ist furchtbar! Der Direktor hat eben das Kollegium informiert. Er sagte, jemand habe anonym die Polizei angerufen …«
    »Irgendeine Ratte hat Timmie als Bombenleger verleumdet«, bestätigte Fredo.
    »… das hat unser Chef auch erzählt! Und dann sagte er noch etwas. Gleich danach. Ohne eine konkrete Schuldzuweisung auszusprechen, aber doch so, dass allen der Zusammenhang klargeworden ist: Wolfgang Köhler hat sich beurlauben lassen und gleichzeitig um Versetzung gebeten …«
    »Hoffentlich kann sich Tim noch darüber freuen«, meinte Fredo bitter.
    »Ich hätte sogar eine gute Nachricht für ihn«, sagte Helena traurig. »Noch vor der Konferenz eben kam Kollege Semmling zu mir. Der ist ganz aus dem Häuschen über Tims Deutscharbeit.«
    »Die über ›John Maynard‹?«
    Helena nickte. »Semmling sagt: Stellenweise etwas schräg argumentiert, aber der originellste Text, den er je zu diesem Thema gelesen hat – Tim sei ein unentdecktes Juwel.«
    In diesem Moment entdeckte Fredo die lange Gestalt Patrik Stenzels. Inmitten des Trubels um ihn herum strahlte Patriks eigentümlich asymmetrisches Gesicht eine beinahe gelassene Ruhe aus, als er jetzt eine kleine Empore an der Stirnseite der Aula ansteuerte, die bei Schulaufführungen auch als Bühne diente. Als der Junge das Podest erklomm, entdeckte Fredo den Matchbeutel über Patriks Schulter, aus dem ein schmaler, länglicher Gegenstand ragte, von einer Plastiktüte verhüllt. GEWEHRLAUF, schoss es Fredo plötzlich durchs Hirn. Und wieder die Fragen an Tim, im Zeitraffertempo:

»Was macht ihr denn so?«
Tims Zögern. »Kann ich dir nicht sagen. Jetzt noch nicht.«
»Wieso nicht?«
»Ist Patriks Ding. Und ich hab ihm versprochen, dichtzuhalten, bis alles über die Bühne gegangen ist.«

    Bühne frei. AMOK.
    Fredo sprintete los, bevor ihm bewusst wurde, was er eigentlich tat. Pflügte sich durch die Schülerscharen. Hechtete auf die Bühne, stieß Patrik zu Boden, bevor der in sein gerade abgesetztes Gepäckstück langen konnte. Fredo riss den Beutel an sich.
    Und zog daraus eine lange Papprolle hervor.
    Es herrschte atemlose Stille, bis sich Patrik aufrappelte, dem entgeisterten Fredo die Rolle aus den Händen nahm und sich an die versammelte Menge seiner Mitschüler und Lehrer wandte.
    »Ich weiß, ihr könnt mich alle nicht leiden. Tim Fried könnt ihr auch nicht leiden. Aber darum geht es jetzt nicht. Ich habe ein Plakat mitgebracht …«
    Patrik zog einen dünnen Karton aus der Pappröhre, entrollte ihn und pinnte das Plakat an die Wand. Die Botschaft bestand nur aus zwei Wörtern, geschrieben in schwarz-roten Buchstaben: TIM FEHLT!
    Fredo blickte erschüttert auf das Plakat, dann auf den Jungen mit dem schütteren Ziegenbärtchen. »Entschuldige bitte … Ich dachte …«
    Das Glockensignal zerschellte seinen hilflosen Erklärungsversuch. Patrik stand einfach da. Niemand sagte etwas. Keiner rührte sich vom Fleck.
    »Ich suche meinen Neffen Tim!«, rief Fredo plötzlich in das große Schweigen hinein. »Er ist irgendwo da draußen! Er ist in Not! Er ist einer von euch. Ihr kennt diese Stadt, ihr kennt die Umgebung. Seht überall nach. Fragt jeden, den ihr kennt! Wer will, geht jetzt zum Unterricht. Alle anderen: Sucht Tim!«
    Johlend strömten die Schüler nach draußen. So, wie es aussah, ging heute niemand zum Unterricht. Fredo blickt hinüber zu Helena und hob in scheinbarem Bedauern die Schultern. Sie zeigte ihm den erhobenen Daumen.
    »Wir müssen Tim finden«, sagte Patrik neben ihm.
    »Wir finden ihn«, erwiderte Fredo. Aber er wagte es nicht, dem Jungen dabei in die Augen zu sehen.

»Noch da, John Maynard?«
»Ja, Herr. Ich bin.«

    Ich bin noch da, spürte Tim. Hier bin ich!, schrie es in ihm. Laut schrie er es längst nicht mehr. Ohne Hilfe würde er hier sterben, das war ihm bewusst. Aber zugleich war er sich sicher, dass diese Hilfe nur kommen würde, wenn er etwas dafür leistete. Er durfte nicht bloß darauf warten, was andere taten. Er musste durchhalten, trotz der flammenden Schmerzen im Bein, trotz Durst und Hunger. Bei John Maynard lag ich falsch, erkannte Tim jetzt. Der litt nicht nur, weil andere das von ihm verlangten. Der war kein Opferlamm. Der wollte es genau so haben. Der hätte ja aufgeben können, einfach abspringen, Schmerzen ade. Kam aber nicht in Frage, weil John Maynard etwas wollte.
    Genau wie Tim. Er wollte seine Eltern wiedersehen. Gesche. Fredo. Karla.
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