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Mittwinternacht

Mittwinternacht

Titel: Mittwinternacht
Autoren: Phil Rickman
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die mindestens die Hälfte der bekennenden Christen in diesem Land nicht glaubte. Man konnte heutzutage versuchen, solche Erscheinungen psychologisch zu erklären, aber nach ein paar Tagen in diesem Kurs fiel das nicht mehr so leicht. Schon der Weg frühmorgens, wenn es noch nicht hell war, vom Hotel in Brecon zu dieser schlichten Kapelle in den verwilderten, einsamen Hügeln gab einem das Gefühl, in eine andere Dimension einzutauchen.
    Merrily hätte nichts dagegen gehabt, wieder abzureisen.
    Am Vortag hatte ihnen ein weiterer Psychiater einen Vortrag über die Verwechselbarkeit von dämonischer Besessenheit und gewissen Formen der Schizophrenie gehalten. Sie sollten eng mit Psychiatern zusammenarbeiten, denn sie gehörten zu dem Netzwerk, das sie sich zu Hause alle aufbauen mussten.
    «Wählen Sie Ihren Psychotherapeuten sehr sorgfältig aus», hatte Huw gesagt, nachdem der Arzt gegangen war, «es ist nämlichso gut wie sicher, dass Sie ihn irgendwann in eigener Sache aufsuchen müssen.»
    Und dann hatte er, weil er Clive Wells’ kaum verhohlenen Spott bemerkte, über eine Stunde lang Fallgeschichten von Pfarrern erzählt, die verrückt oder Alkoholiker geworden waren, phasenweise verschwanden, ihre Frauen geschlagen oder angefangen hatten, sich selbst zu verletzen. Als ein Grenzfragen-Pfarrer aus Middlesborough schließlich ins Krankenhaus gebracht worden war, hatte man siebenundvierzig Kreuze entdeckt, die er sich in die Arme geritzt hatte.
    Das war allerdings ein Extremfall. Meistens beschränkte sich die Aufgabe der Berater für spirituelle Grenzfragen darauf, Fragen zu beantworten: Die Geistlichen aus dem Umkreis riefen an, wenn sie es in ihrer Gemeinde mit einem psychischen Problem zu tun bekamen, um zu besprechen, wie sie am besten damit umgehen sollten. Nur in ernsten oder dauerhaften Fällen sollte man sich persönlich einschalten. Zudem war echte Besessenheit äußerst selten. Und auch wenn der größte Teil der Arbeit mit Spukerscheinungen zu tun hatte, waren richtige Geister – umherwandernde Erscheinungen oder
Ruhelose
– ebenfalls relativ selten. Neunzig Prozent der Fälle betrafen einfache
Entladungen
oder
Abdrücke
.
    Wie zum Beispiel den Mönch.
    Ah ja   … Mönche. Man musste, wie Huw sagte, über diese allgegenwärtigen Geistermönche wissen, dass sie eine sehr zweckdienliche Gestalt hatten. Mit ihrer fließend wallenden Kutte und fast immer ohne erkennbares Gesicht waren diese Mönche nicht klar zu beschreiben. Im Grunde konnte jede Aura – die elektromagnetische Energiewolke um eine lebende Gestalt – vage an eine Mönchskutte erinnern. Ebenso wie ein
Abdruck
. Deshalb gibt es so viele Geistermönche, verstehen Sie?
    «Oh, verzieh dich einfach!» Merrily zerknüllte das Papierhandtuch,warf es auf den Fleck an der Wand und ging hinüber, um sich die Sache genauer anzusehen.
    Der Fleck schwebte gar nicht in der Luft, er war auf der Wand selbst: Es war der Abdruck eines alten Türdurchbruchs. Der
Geist
eines Türdurchbruchs.
    Drei Tage in so einem Kurs, und man sah
es
überall.
    Merrily bückte sich seufzend nach dem Papierhandtuch und warf es in den Mülleimer. Dann nahm sie ihre Zigarette vom Waschbeckenrand. So einfach war das   … vermutlich hatte sie nur das schwache Licht in Kombination mit dem Zigarettenrauch im Spiegel auf die Idee gebracht, dass sich der Umriss bewegen würde.
    Offenbar kam es selten vor, dass die Berater für spirituelle Grenzfragen selbst etwas von den Phänomenen mitbekamen, die sie
ablenken
sollten. Zudem musste man, wie Huw gerade betont hatte, jeder Wahrnehmung misstrauen.
    Trauen Sie nichts und niemandem, vor allem nicht Ihren eigenen Sinnen.
    Merrily warf einen letzten Blick in den Spiegel: eine eher kleine, dunkelhaarige Person in einem Schlabberpulli. Die einzige Frau unter den neun Geistlichen des Kurses.
    «Ein nettes kleines Pfarrerinnen-Püppchen mit schönen Beinen und schnuckeligen Titten.»
    Dermot, ihr Kirchenorganist, hatte das an dem Tag zu ihr gesagt, an dem er vor ihr sein eigenes Organ entblößt hatte. Sie erschauerte. An diesem Morgen hatte Dermot eine mönchsartige Kutte getragen und keine Unterwäsche. Kein Wunder, dass sie Mönchen nicht mehr traute. Hochwürden Huw Owen dagegen erschien ihr vertrauenswürdig, trotz seines blassen und erschöpften Äußeren war er zäh und flexibel wie altes Leder. Huw hatte zwar auch etwas von einem Mönch an sich – allerdings mehr von einem keltischen Einsiedlermönch in seiner einsamen
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