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Mittwinternacht

Mittwinternacht

Titel: Mittwinternacht
Autoren: Phil Rickman
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TEIL EINS
Abdruck
    1
Es
    Hier spukte es also   …
    Merrily wusch sich die Hände. Mit einem Mal sah sie auf und hielt reglos inne. Sie war in diesem dämmrigen, schwebenden Moment davon überzeugt, den
Abdruck
zu sehen.
    Hinter ihrer linken Schulter erkannte sie in dem gesprungenen, altersfleckigen Spiegel der Damentoilette mit dem rohen Mauerwerk und dem gefliesten Boden einen verschwommenen Umriss an der Wand. Durch das Strukturglas in der Tür sickerte ein trüber ockerfarbener Schimmer von der Petroleumlampe im Gang herein, in dem es aus irgendeinem Grund kein elektrisches Licht gab.
    Hier hat es gespukt, hatte Huw mit seiner leisen, gleichförmigen Yorkshire-Stimme erklärt – David Hockney auf Tranquilizer.
    Es.
    Den Gerüchten zufolge war
‹es›
der Geist eines Priesters namens Griffith, der gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts die bedauernswerten Bergbauernfamilien aus der Gegend mit flammenden Predigten überzogen hatte.
Es
war aber auch als ‹Der Graue Mönch› bekannt, denn daran erinnerte es am meisten.
    Und hier ging es also um.
    Merrily konzentrierte sich auf ihr eigenes blasses Gesicht im Spiegel.
    Fing so der Wahnsinn an?
     
    «Müssen die eigentlich auch manchmal?», hatte der Ex-Armeekaplan Charlie Headland ein paar Minuten zuvor gefragt, als Merrily gerade dachte:
Warum
gehen
sie immer um? Warum rennen sie nicht? Warum suchen sie keinen Ausweg aus diesem stumpfsinnigen Trott?
    Der Kursleiter, Huw Owen, ein leicht schlampiger Althippie mit einem abgetragenen Priesterkragen, hatte Charlie Headland wortlos angestarrt.
    «Nein, im Ernst», beharrte Charlie. «Muss einer von denen auch mal pinkeln, oder haben die so was hinter sich?»
    «Charles   …», sagte Huw gedehnt und ohne das kleinste Lächeln.
    Abends im Pub lachte Huw gern und viel, aber in dem Seminarraum mit den alten, unverputzten Steinmauern blieb er immer vollkommen konzentriert. Er wollte den anderen ein Vorbild sein. Außerhalb all dieser Dinge, sagte Huw, sollte man ein völlig normales, unbelastetes Leben führen, doch wenn es um spirituelle Grenzfragen ging, galt es, höchst aufmerksam und kritisch zu bleiben und bei etwas so Harmlosem wie einem
Abdruck
nicht überzureagieren.
    Die Sache mit dem Grauen Mönch war überhaupt nur aufgekommen, weil Huw ein Beispiel gebraucht hatte, an dem er zeigen konnte, was er mit
Abdruck
meinte.
    Im Unterschied zu
Besuchern
, üblicherweise Eltern oder enge Freunde, die meist nur ein einziges Mal an ihrem Todestag erschienen, um zu sagen: Es ist alles in Ordnung. Oder zu
Entladungen
– freien Energieströmen, die Teller und Tischlampen wandernließen und für gewöhnlich, wenn auch manchmal unzutreffend, Poltergeister genannt wurden.
    Als dieser Raum noch eine Nonkonformistenkapelle war, hatte Huw ihnen erzählt, war die derzeitige Damentoilette als eine Art Sakristei genutzt worden. Und dort hatte sich Griffith, der Priester – der sich offenkundig in hoffnungsloser Begierde nach einer verheirateten Frau in Sennybridge verzehrte   –, eines Abends schwer betrunken und war in der Morgendämmerung bleich und nackt auf dem Hügel gesehen und später in der nach Brandy stinkenden Sakristei gefunden worden, wo er mit einem Schädelbruch auf dem Fliesenboden gelegen hatte.
    Klar – solche Sachen passierten eben in abgelegenen Gemeinden. Merrily zog ein Papierhandtuch aus dem Spender und trocknete sich die Hände ab. Sie widerstand der Versuchung, unvermittelt herumzuwirbeln, um den nackten, verwirrten Griffith dabei zu erwischen, wie er sich aus dem feuchten Abdruck an der Wand herausschälte.
    Sie würde sich verdammt nochmal nicht fürchten. Sie würde alles mit etwas Abstand beurteilen.
Abdrücke
waren ausnahmslos harmlos. Sie tauchten auf, verschwanden, mischten sich manchmal in die Atmosphäre, doch niemals belästigten sie jemanden. Sie nahmen Menschen genau genommen nicht einmal wahr, sie hatten nämlich keine Gefühle, kein Bewusstsein. Ihre Erscheinungsform änderte sich nur sehr selten. Sie tauchten auf wie ein geschnitzter Kuckuck aus der Uhr, bloß lautlos. Und, nein, sie mussten offenbar niemals pinkeln.
    Wenn ein
Abdruck
jemanden ansprach, dann war es vermutlich keiner, sondern ein
Besucher
oder, noch schlimmer, ein
Ruheloser
– und dann musste man sich genau überlegen, was man zu tun hatte.
    «Und woher wissen wir überhaupt, welcher was ist?», hatte der große, glatzköpfige Charlie Headland an dieser Stelle gefragt.Charlie war ein schlichtes, aber ziemlich
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