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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen
Autoren: John Saul
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Anthony Fleming so bewunderte. Selbst
von ihrem entfernten Standort aus konnte sie feststellen, dass
aus seinem Hemd keine unansehnlichen Haare hervorlugten.
Trotz seiner Trauer verstand er sich zu kleiden.
Wenn er seiner Trauer auch nicht durch seine Kleidung
Ausdruck verlieh, so bemerkte Irene an ihm jedoch eine
gewisse Schwerfälligkeit, um nicht zu sagen Überdrüssigkeit.
Seit dem Tod von Lenore waren inzwischen etliche Monate
vergangen, und obgleich die Nachbarn ihre Ansicht nicht
billigten, war für Irene eines ganz klar: Anthony Fleming war
ein Mann, und wenn Irene in den Dekaden ihres langen Lebens
eines gelernt hatte, dann das, dass Männer eine Frau brauchten.
Umgekehrt freilich lag der Fall ganz anders: die meisten
Frauen – und zu denen zählte sich Irene – kamen wunderbar
ohne Mann zurecht. Nicht dass sie grundsätzlich etwas gegen
Männer hatte. Es war nur einfach so, dass ihrer Erfahrung nach
die Männer größtenteils die Mühe nicht wert waren. Sie
erwarteten ständig Aufmerksamkeit und Unterstützung, im
körperlichen wie seelischen Bereich, und schienen gemeinhin
anzunehmen, dass sie mit einer Belohnung in Form von zwei,
drei Beischlafen pro Woche eine Frau bei Laune halten
könnten. Irene wusste jedoch, dass dem keineswegs so war und
hatte schon vor langem entschieden, dass Affären das A und O
waren. Solange ein Mann ihre Erwartungen erfüllte und ihr
mehr Gutes angedeihen ließ als Schlechtes, konnte eine
Beziehung sehr angenehm sein. Aber eine Ehe war etwas ganz
anderes. Ihren Beobachtungen nach – und dazu boten sich ihr
reichlich Gelegenheiten – zogen Frauen in diesem Arrangement stets den Kürzeren. Sie richteten ein behagliches Heim
ein, kümmerten sich um das leibliche Wohl – oder stellten
zumindest einen Koch ein und sorgten später dafür, dass er
nicht mehr stahl als ihm gebührte –, organisierten die gesellschaftlichen Verpflichtungen und scheuten keine Mühen, auch
dann noch attraktiv auszusehen, nachdem der Herr des Hauses
bereits kahl geworden und sein Bauch merklich gewachsen
war. Aber Männer schienen seltsamerweise nicht ohne die
Aufmerksamkeiten einer guten Frau auszukommen, und
Anthony Fleming bildete hierbei keine Ausnahme. Doch
nachdem Irene ihrerseits keinerlei Ambitionen verspürte, diese
Lücke im Leben ihres Nachbarn zu füllen, konnte sie
wenigstens ihren Beitrag dazu leisten, eine geeignete Frau für
ihn zu finden.
Als hätte er ihren Blick gespürt, sah Anthony plötzlich hoch,
erkannte sie und winkte.
Kaum war er durchs Portal des Rockwell getreten, verließ sie
das Fenster, ging zum Telefon und wählte die Nummer der
Portierloge. »Sagen Sie Mr. Fleming, er soll nicht
heraufkommen. Ich werde in ein paar Minuten unten sein.«
Sie sah kurz nach ihrer Schwester, die noch schlief, und
schlüpfte dann in einen leichten Popelinemantel, in Purpurrot,
ihrer Lieblingsfarbe. Nachdem sie den Spazierstock aus dem
Schirmständer neben der Tür gezogen hatte, verließ sie die
Wohnung und hielt sich nicht damit auf, die Tür abzusperren.
In all den vielen Jahren, die sie jetzt schon im Rockwell
wohnte, hatte sie es nie für notwendig erachtet, ihre
Wohnungstür abzusperren oder gar zu verriegeln, und sie sah
auch keine Veranlassung, jetzt damit zu beginnen. Der Aufzug,
den Rodney in ihre Etage geschickt hatte, kam genau in dem
Augenblick, als sie in den Flur trat, mit einem metallenen
Scheppern zum Stehen. Irene zog die schmiedeeiserne
Ziehharmonikatür auf, stieg ein, zog die Tür zu und wollte
schon den Knopf hinunter zur Lobby drücken, als sie sich,
einer plötzlichen Laune folgend, anders entschied und vier
Etagen weiter nach oben fuhr. Dort ließ sie die Fahrstuhltür
offen und klingelte an der Tür von Max und Alicia Albion.
Alicia machte beinahe im selben Moment auf, und der
Kummer in ihren Augen beantwortete auch gleich den Grund
ihres Kommens. »Rebecca geht es noch nicht besser?«, fragte
sie. Rebecca Mayhew war das Pflegekind, das Max und Alicia
vor vier Jahren aufgenommen hatten, ein dürres, verwahrlostes
Ding, das viel jünger wirkte als ihre acht Jahre. »Das kommt
daher, dass sie nie ordentlich ernährt worden ist«, hatte Alicia
Irene versichert, als die ältere Dame sich erkundigt hatte, ob
die Kleine krank sei. Irene hatte ihr das nicht ganz
abgenommen, da Alicias Antwort auf jedwedes Problem
unweigerlich das Essen einschloss. Doch in Rebeccas Fall
schien es, als hätte Alicia diesmal
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