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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder
Autoren: Salman Rushdie
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aufrundete und mein frühes Erscheinen einfach ignorierte, aber ich sagte nichts.
    »Nach oben.« Der alte Hippie deutete zur Rückseite des Ladens. »In den Übungsraum, in dem Bill gerade ist. Er ist im Moment der einzige Lehrer hier.«
    »Danke, Genosse«, sagte ich, und der Hippie lächelte mich an. Ich stieg die knarrende, mit Teppich belegte Treppe in den ersten Stock hinauf. Dort war es heißer als im Hades, und es roch nach Schweiß und Nervosität. Drei Türen gingen von dem dunklen, schmalen Gang ab, und Bill war hinter Tür Nummer zwei. Ich schob sie ein Stück weiter auf und musterte die Akustikplatten an den Wänden. Die alten Holzstühle sahen aus, als hätten Tigerbabys sie als Kratzbäume benutzt, und ein Mann mit staubgrauem Haar saß auf einem davon.
    Er hatte erstaunlich viel Ähnlichkeit mit George Clooney. Ich dachte kurz daran, ihm das zu sagen, fand aber dann, dass das zu dreist wäre.
»Hola.
Ich bin James.«
    Er stand nicht auf, lächelte aber einigermaßen nett, gab mir die Hand und deutete auf den Stuhl gegenüber. »Ich bin Bill. Wie wär’s, wenn du deine Übungspfeife herausholst und mir etwas vorspielst, damit ich weiß, wo du stehst? Es sei denn, du bist nervös – wir können uns auch ein bisschen unterhalten, aber eine halbe Stunde Musikunterricht ist ziemlich kurz.«
    Ich stellte den Koffer ab, kniete mich daneben und ließ die Verschlüsse aufschnappen. »Nein, das passt schon.« Während ich neben meinem Instrument nach der Übungspfeife kramte, blickte ich zu Bill auf. Er hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und las die Aufkleber, mit denen mein Koffer verziert war. Solange er sich mit dem beschäftigte, auf dem
Vorsicht, wenn du auf Drachen triffst, denn mit Ketchup schmeckst du besonders lecker
stand, betrachtete ich Bill genauer. Seine Übungspfeife lag neben seinem Stuhl. Sie war neu und glänzte; meine war zerschrammt, und bunte Klebebandstückchen verdeckten einige der Löcher teilweise, damit sie genau richtig gestimmt war. Seine Schultern waren gerade; bei mir stand immer eine etwas höher als die andere, weil ich so viel Dudelsack spielte. Sein Dudelsackkoffer schien noch fast neu zu sein; meiner sah aus, als wäre er schon ein paarmal durch die Hölle gegangen. Allmählich bekam ich den Eindruck, dass das hier Zeitverschwendung war – vor allem, als sich beim Anblick meiner Übungspfeife seine Augen weiteten.
    Ich legte den Practice Chanter zurück in den Koffer. Diese Übungspfeife ist eine dünne Plastikversion der Spielpfeife an einem echten Dudelsack, und ihr größter Vorzug liegt darin, dass sie etwa tausendmal leiser ist als die echte – womit das Risiko tausendmal geringer ist, beim Üben innerhalb von Gebäuden gesteinigt zu werden. Vom Kraftaufwand her ist sie auch viel leichter zu spielen: Man erspart sich das ganze Geschnaufe und Gepuste, um den Sack aufzublasen. Außerdem klingt sie wie eine sterbende Gans; wenn man wirklich Eindruck machen will, muss man den richtigen Dudelsack nehmen. Deshalb griff ich nun danach. »Äh, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich stattdessen etwas auf dem Dudelsack spiele? In der Schule finde ich nur schwer einen Platz zum Üben, und ich habe das Gefühl, ich habe das Ding ewig nicht mehr aus dem Koffer geholt.«
    Bill blickte ein wenig überrascht drein, zuckte aber mit den Schultern. »Sicher, es sind gerade keine anderen Schüler da. Mach das, womit du dich am wohlsten fühlst. Was willst du denn spielen?«
    »Weiß ich noch nicht genau.« Ich holte meine Sackpfeife heraus. Der Geruch nach Leder und Holz war mir so vertraut wie mein eigener. Die Bordunpfeifen schmiegten sich an meine Schulter, als ich den Sack mit Luft füllte. Sobald sie die ersten Töne von sich gaben, merkte ich, wie unglaublich laut der Dudelsack in diesem winzigen Raum klingen würde. Ich hätte meine Ohrstöpsel mitbringen sollen.
    Etwa zwanzig Sekunden lang sah Bill mir beim Stimmen zu, beobachtete meine Haltung und hörte, wie gleichmäßig ich den Ton während des Stimmens hielt. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, langsam anzufangen und dann mit einem so überragenden Stück abzuschließen, dass er mir die Füße küssen würde. Aber der Dudelsack dröhnte in dem Zimmer dermaßen laut, dass ich es nur hinter mich bringen wollte. Und so setzte ich zu einem meiner liebsten Reels an, einem schottischen Volkstanz, bei dem es einem leicht die Finger verknoten konnte, den ich jedoch praktisch im Schlaf hätte spielen können. Schnell. Sauber.
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