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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder
Autoren: Salman Rushdie
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wir uns im Flur begegnet wären, hätten wir einander sicher zugenickt.
    Sullivan fuhr fort: »Gut, fangen wir also ganz von vorn an. Was fällt euch ein, wenn ihr ›Hamlet‹ hört? Nein, Paul. Ihr braucht euch nicht zu melden. Redet einfach drauflos.«
    »Tragödie«, sagte Eric. Genau genommen war Eric kein Schüler, sondern Hilfslehrer. Jedenfalls war er uns als Assistant Teacher vorgestellt worden, aber ich hatte noch nie erlebt, dass er Sullivan bei irgendwas assistiert hätte. »Ich meine, das ist doch eine, oder?«
    Diese Antwort war dermaßen platt, dass der Rest der Klasse sich sofort entspannte. Die Messlatte lag damit so niedrig, dass wir so ziemlich alles in den Raum werfen konnten.
    »Geister«, sagte Megan. Sie war Sängerin. Sänger irritierten mich ein bisschen, weil es schwierig war, sie in die orchestralen Persönlichkeitsgruppen in meinem Kopf einzusortieren.
    »Sein oder nicht sein!«, rief Wesley, der ebenfalls Paul hieß und seinen Nachnamen benutzte, damit es keine Verwirrung gab. Es war nett von ihm gewesen, das anzubieten, denn mein Zimmergenosse Paul hieß mit Nachnamen Schleiermacher, und diesen Namen konnte ich kaum buchstabieren, geschweige denn mehrmals täglich aussprechen.
    »Alle sterben irgendwann«, fügte Paul hinzu. Irgendwie erinnerte mich das an die gehörnte Gestalt hinter dem Schulgelände.
    »Selbstmord«, sagte ich, »und Mel Gibson.«
    »Mel Gibson?«, fragte Eric hinter mir.
    Sullivan zeigte mit dem Finger auf mich. »Du hättest dich vorhin melden sollen, Morgan. Du kennst
Hamlet
ja
doch!
«
    »Danach haben Sie nicht gefragt«, entgegnete ich. »Sie haben gefragt, ob wir es
gelesen
haben. Ich habe einen Teil des Films im Fernsehen gesehen. Und ich fand, dass Mel Gibson im Kilt besser war.«
    »Was eine hervorragende Überleitung ist. Die Sache mit dem Film, meine ich, nicht das mit dem Kilt. Wir werden uns zuerst den Film anschauen – nicht die Version mit Mel, tut mir leid, James – und anschließend das Stück lesen.« Sullivan deutete auf einen Fernseher hinter sich. »Deshalb habe ich auch den da mitgebracht. Nur …«
    Er sah sich im Raum um und betrachtete unsere Tische, die wir in einem Kreis um ihn herum aufgestellt hatten. Dann blickte er uns an, die wir an seinen Lippen hingen und auf seine weisen Worte warteten. »Nur fürchte ich, dass ihr euch den Hintern platt sitzt, wenn ihr euch auf diesen Stühlen einen ganzen Film anschaut. Wir brauchen etwas Besseres. Wer von euch hat ordentlich Kraft in den Armen?«
    Wir holten also zwei Sofas aus dem Aufenthaltsraum im ersten Stock. Je vier von uns schleppten eine Couch den Flur entlang, an den geschlossenen Türen der anderen Unterrichtsräume vorbei und in unser Klassenzimmer. Sullivan half uns, sie an die Wand zu schieben und die Jalousien zu schließen, damit sich nichts auf dem Bildschirm spiegelte. Es wurde dunkel im Raum, und man konnte beinahe vergessen, dass es früher Vormittag war.
    Wir quetschten uns auf die Sofas. Neben uns drehte Sullivan seinen Stuhl mit der Rückenlehne nach vorn und setzte sich. Wir sahen uns das erste Viertel von
Hamlet
an (der sich selbst viel zu ernst nahm), und Sullivan ließ uns über die melodramatischeren Stellen herziehen (also praktisch alle). Zum ersten Mal, seit ich angekommen war, hatte ich das Gefühl, irgendwie auch dazuzugehören.
    Neue Textnachricht
    An:
    James
     
    Als ich die feen gesehen habe, dachte ich, evtl. sehe ich auch luke. Aber sie waren nicht echt. Es ist so seltsam hier. Wie wenn du glaubst, du kommst in den himmel, aber wenn du da bist, stellst du fest, du bist in cleveland.
     
    Absender:
    Dee
     
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[home]
    James
    E in weiterer schmerzlich schöner Herbsttag im Land der Privatschulen. Hier im Tal waren die Bäume noch grün, aber an einigen Nordhängen der umgebenden Hügel und Berge leuchteten die Blätter schon orangerot und rot. Die Kombination ließ das Bild künstlich wirken, wie die Landschaft um eine Modelleisenbahn. Ich hatte die Stereoanlage im Auto auf »unerträglich laut« gedreht, weshalb ich das Telefon wohl nicht klingeln hörte; erst als ich aus dem Augenwinkel das Display blinken sah, merkte ich, dass mich jemand anrief.
    Vielleicht war das endlich Dee.
    Ich schnappte mir das Handy vom Beifahrersitz und schaute nach der Nummer. Mom. Seufz. Ich stellte auf Freisprechen und legte das Gerät aufs
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