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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder
Autoren: Salman Rushdie
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Dee, bleib mal ganz still stehen, bitte. Ich werde noch seekrank. Also – Feen? Schon wieder?«
    Dee schloss einen Moment lang die Augen. Als sie sie wieder öffnete, wirkte sie etwas normaler, mehr wie sie selbst. Nicht so hektisch. »Dumm von mir. Ich bin wohl nur erschrocken. Aber es kommt mir so vor, als würde ich sie überall sehen.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie auch nur anzuschauen tat irgendwie weh auf eine Art, die ich ganz vergessen hatte. Es fühlte sich so ähnlich an wie ein Splitter – nicht wenn man ihn sich einzieht, sondern dieser zähe Schmerz, nachdem er entfernt worden ist.
    Sie schüttelte den Kopf. »Wie dämlich kann man eigentlich sein? Im Ernst: Ich habe dich ewig nicht mehr gesehen, aber es vergehen keine fünf Minuten, und ich jammere dir was vor. Ich sollte vor Freude im Kreis herumspringen. Ich … Es tut mir leid, dass ich dich bisher nicht besucht habe.«
    Eine Sekunde lang hatte ich geglaubt, dem »Es tut mir leid« würde etwas anderes folgen. Etwas ungeheuer Bedeutsames, mit dem sie in irgendeiner Form zu erkennen gab, dass ihr bewusst war, wie sehr sie mich verletzt hatte. Als das nicht kam, hätte ich am liebsten geschmollt und dafür gesorgt, dass sie sich mies fühlte, aber das brachte ich nicht fertig. Stattdessen kam ich ihr zur Rettung, weil ich eben ein galanter Idiot bin, der auf Schmerz und Bestrafung steht. »Na ja, in der Broschüre steht, dass der Campus über sechs Hektar groß ist. Da hätte es
Jahre
dauern können, bevor wir uns mal über den Weg laufen.«
    Deirdre biss sich auf die Lippe. »Ich hatte ja keine Ahnung, wie heftig der Stundenplan hier ist. Aber – hey. Es tut richtig gut, dich zu sehen.«
    Ein langer, unbehaglicher Augenblick folgte, in dem normalerweise eine Umarmung stattgefunden hätte – vor dem vergangenen Sommer. Vor Luke und lange vor dieser SMS , die ich ihr geschickt hatte. Die SMS , die keiner von uns beiden vergessen konnte.
    »Du bist ganz braun gebrannt«, sagte ich. Das war eine Lüge: Dee wurde nie braun.
    Dee lächelte schief. »Und du hast dir die Haare schneiden lassen.«
    Ich strich mir über den Kopf und erlaubte meinen Fingern, die frische Narbe über meinem Ohr zu betasten. »Sie mussten die Stelle rasieren, um sie zu nähen. Ich habe dann alles abgeschnitten, damit der Rest dazu passt. Eigentlich wollte ich mir am Hinterkopf meine Initialen einrasieren, aber – das wird dich sicher schockieren – mir ist erst da klargeworden, dass meine Initialen JAM ergeben. Und als Marmelade herumzulaufen fand ich demütigend.«
    Dee lachte. Das freute mich in absurdem Maße. »Es steht dir irgendwie«, sagte sie, doch ihr Blick war auf meine Hände und die Wörter gerichtet, mit denen beide bis hinauf zum Handgelenk vollgekritzelt waren. Mehr Tinte als Haut.
    Ich wollte wissen, wie es ihr ging, wollte sie nach den Feen fragen, nach der SMS , aber anscheinend brachte ich nichts von Bedeutung heraus. »Jedenfalls besser, als es dir stehen würde.«
    Sie lachte wieder. Es war kein echtes Lachen, aber das war okay, denn ich hatte auch nicht rasend komisch sein wollen. Ich hatte bloß irgendetwas antworten müssen.
    »Was tun Sie hier?«
    Dee und ich fuhren herum, und vor uns stand eine der Lehrerinnen: Eve Linnet, Dramatische Literatur. Im fahlen Licht wirkte sie wie ein kleines, blasses Gespenst. Ihr Gesicht wäre vielleicht hübsch gewesen, wenn sie nicht so finster dreingeblickt hätte. »Dieser Teil gehört nicht mehr zum Schulgelände.«
    Irgendetwas erschien mir falsch, aber ich brauchte eine Sekunde, um zu erkennen, was das war. Sie war aus Richtung der Hügel gekommen, nicht von der Schule her.
    Linnet reckte den Hals, als hätte sie Deirdre eben erst bemerkt. Dees Wangen waren so rot, als wären wir bei etwas Verbotenem erwischt worden. Mit scharfer Stimme fügte Linnet hinzu: »Ich weiß nicht, von was für Schulen Sie beide kommen, aber hier wird
so etwas
nicht geduldet.«
    Vor dem vergangenen Sommer hätte ich irgendeinen Witz über Dee und mich gemacht – so sei das gar nicht, ich sei ihr seit meiner Geburt als Liebessklave verpflichtet, oder es sei nichts passiert, weil Dee von einer geheimnisvollen chemischen Substanz in meiner Haut abgestoßen werde. »So ist das aber nicht«, sagte ich stattdessen lahm.
    Ich wusste, dass meine Antwort schuldbewusst klang, und sie war offenbar derselben Meinung, denn sie erwiderte: »Ach nein? Was haben Sie dann so weit hier draußen zu suchen?«
    Das war die Idee.
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