Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
Fehlerfrei.
    Bills Gesicht war leer – es zeigte keinerlei Regung. Als hätte ich ihm mit der bloßen Lautstärke den Ausdruck vom Gesicht geblasen. Ich nahm das Instrument von der Schulter.
    »Ich kann dir nichts beibringen.« Bill schüttelte den Kopf. »Aber das wusstest du schon, als du herkamst, nicht wahr? Hier in der Umgebung findest du sicher niemanden, der dir etwas beibringen könnte. Vielleicht nicht einmal im gesamten Bundesstaat. Trittst du bei Musikwettbewerben an?«
    »Bis diesen Sommer, ja.«
    »Warum hast du aufgehört?«
    Ich zuckte mit den Schultern. Aus irgendeinem Grund machte es mir keine Freude, es ihm zu sagen. »Bin ganz oben angekommen. Danach fand ich es irgendwie langweilig.«
    Erneut schüttelte Bill den Kopf. Er musterte mein Gesicht, und ich konnte seine Gedanken erraten, denn genau das dachten sie immer:
Du bist so jung (und ich bin so alt).
Mit tonloser Stimme erklärte er: »Ich werde mich dann wohl mit der Schule in Verbindung setzen. Ihnen Bescheid sagen, damit sie sich etwas anderes für dich überlegen können. Aber die wussten das auch schon alles, ehe sie dich aufgenommen haben, nicht wahr?«
    Ich ließ den Dudelsack sinken. »Ja.«
    »Du solltest dich am Carnegie Mellon College bewerben. Die haben einen Studiengang mit Schwerpunkt Sackpfeifen.«
    »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen«, gab ich zurück. Mein Sarkasmus entging ihm völlig.
    »Du solltest dir das wirklich überlegen, wenn du hier fertig bist.« Bill sah mir zu, während ich mein Instrument einpackte. »Es wäre ein Jammer, wenn du nur auf irgendein Konservatorium gehen würdest.«
    Ich nickte nachdenklich und ließ ihn weitere intelligente Bemerkungen machen, dann gab ich ihm die Hand und ließ den Unterrichtsraum hinter mir. Ich war enttäuscht, obwohl ich das eigentlich nicht hätte sein sollen. Schließlich hatte ich ja genau das bekommen, was ich erwartet hatte.
     
    Als ich aus der Musikalienhandlung kam, saß ein Mädchen auf dem Bordstein. In meiner ziemlich üblen Laune hätte ich die junge Frau keines zweiten Blickes gewürdigt, wenn sie nicht fünf Zentimeter neben meinem Auto gesessen hätte. Obwohl sie mir den Rücken zuwandte, drückte alles an ihr pure Langeweile aus.
    Ich legte den Dudelsackkoffer möglichst laut und umständlich auf den Rücksitz in der Hoffnung, sie würde den Wink verstehen – dass ich
sie überrollen
würde, wenn sie sich nicht endlich vom Fleck rührte, weil ich losfahren wollte.
    Doch als ich mit dem Lärmen fertig war, hatte sie sich immer noch nicht bewegt, also ging ich um das Auto herum und blieb vor ihr stehen. Nach wie vor hockte sie reglos da, hatte das Kinn in die Luft gereckt, die Augen gegen die Nachmittagssonne geschlossen und tat so, als würde sie mich nicht bemerken.
    Vielleicht war sie mit mir in irgendeinem Kurs, und ich hätte sie erkennen sollen. Wenn sie eine Schülerin war, hielt sie sich aber definitiv nicht an die Kleidungsvorschriften – sie trug eine hautenge Bluse, bedruckt mit einem schwungvollen Schriftzug, und eine Schlaghose, unter deren Jeansstoff mächtige Plateau-Clogs hervorschauten. Dazu war ihre Frisur unverkennbar: irgendwie zerzaustes, nicht ganz lockiges blondes Haar, vorne lang und hinten trendig kurz geschnitten.
    »Meine Liebe«, sagte ich höflich, »dein Hintern blockiert meine Stoßstange. Könntest du vielleicht auch ein, zwei Meter weiter südlich herumlungern und mich ausparken lassen?«
    Ihre Augen öffneten sich.
    Es war, als würde ich in Eiswasser ertrinken. Ich bekam Gänsehaut am ganzen Körper, und in meinem Kopf verkündete eine unheimliche Melodie:
nicht normal
. Die Ereignisse des vergangenen Sommers gingen mir ungebeten wieder durch den Kopf.
    Das Mädchen – wenn es denn überhaupt eines war – blickte mit leuchtend blauen Augen, die durch die dunklen Schatten darunter noch strahlender wirkten, zu mir auf. Mit unendlich gelangweilter Miene sah die junge Frau mir ins Gesicht. »Ich warte schon
ewig
auf dich.«
    Als sie sprach, umhüllte mich ihr duftender Atem: schlaftrunken nickende Wildblumen, frischer Regen und ferner Holzrauch. Eine Ahnung von Gefahr kitzelte mich hinter dem Bauchnabel. Ich wagte mich mit einer Frage vor. »Wie meinst du das, ›ewig‹ – wartest du seit ein paar hundert Jahren oder seit meine Musikstunde angefangen hat?«
    »Bilde dir nur nichts darauf ein«, entgegnete sie, stand auf und wischte sich die staubigen Hände am Hintern ab. In diesen Plateauschuhen war sie so
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher