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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond
Autoren: Jutta Wilke
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Prolog
    *
    Einige nennen mich Mutter Holunder
,
    andere nennen mich Dryade
,
    aber eigentlich heiße ich
    Erinnerung
.
    Hans Christian Andersen,
    Mutter Holunder und andere Märchen
    *
Kartause Mauerbach, ein Siechenhaus,
im Juni 1783 n.Chr
.
    Es war dunkel geworden in dem alten Kloster.
    Mit der Nacht kam die Kälte zurück, zog durch die Ritzen und kroch unter die Menschen, die eng aneinandergedrängt auf dem Boden kauerten. Nur die im Mondlicht blass schimmernden Glasfenster erinnerten daran, dass dieser Raum einmal zu einer Kirche gehört hatte. Es schien, als ob die weißen Dolden des Holunders, der draußenvor den Fenstern blühte, behutsam einen Schleier über diesen trostlosen Ort legen wollten.
    Johanna wickelte das Laken enger um ihren kleinen Bruder. Sie streichelte seinen bebenden Körper und flüsterte ihm beruhigende Worte ins Ohr. So viele Nächte hatte sie an Samuels Lager gesessen, ihn gehalten und hin und her gewiegt. Ihr Rücken war schon steif und ihre Arme wurden immer schwerer.
    Samuel glühte am ganzen Körper und Johanna wusste, dass sie ihm unbedingt etwas von dem Wasser einflößen musste, das sie am Brunnen geholt hatte. Sie versuchte, ihn aufzurichten und den Becher an seinen Mund zu setzen, aber sie hatte kaum noch Kraft. Schließlich tunkte sie einen Zipfel des Lakens in das Wasser und steckte ihn Samuel zwischen die Lippen.
    Gierig begann ihr Bruder zu saugen. Immer wieder befeuchtete Johanna das Stückchen Stoff und schob es Samuel in den Mund.
    Inzwischen schliefen fast alle Menschen um sie herum. Die wenigen, die noch wach waren, stöhnten leise auf ihren Lagern.
    Das Kloster war ein feuchter, kalter Ort, selbst in Sommernächten wie dieser. Überall roch es nach Krankheit, nach Fäulnis und nach Tod.
    Am liebsten wäre Johanna an die frische Luft gelaufen, aber hier drinnen lag Samuel, der einzige Mensch, der ihr noch geblieben war auf dieser Welt.
    Und jetzt war auch er krank.
    Samuel saugte noch ein paar Tropfen Wasser, dann fiel sein Kopf auf ihre Schulter. Sie strich ihm über die dunklen Locken und küsste seine heiße Stirn. Sie nahm ihn fester in die Arme und hielt ihn im Schlaf. Johanna war selbst müde, so müde, dass ihr die Augen zufallen wollten. Aber sie hatte Angst einzuschlafen.
    »Lass mich nicht allein, Sami, bitte lass mich nicht allein«, flüsterte sie.
    Tränen liefen ihr über das Gesicht. Wie sehr sehnte sie sich nach ihrer Mutter. Aber die war tot, genauso wie ihr Vater.
    Immer wieder quälten sie die Bilder, die besonders in der Nacht aus ihrem Versteck krochen, als hätten sie den ganzen Tag nur dagelegen wie ein hungriges Raubtier und auf den Moment gelauert, da sie nicht mehr die Kraft haben würde, sich gegen sie zu wehren. Für immer eingebrannt in ihre Erinnerung waren die Bilder der Männer, die erst ihren Vater in weiße Tücher gehüllt hatten. Dann hatte die Nachbarin auch über das geliebte Gesicht der Mutter helles Leinen gelegt, und die Männer hatten die toten Körper der Eltern aus der Stube geschafft wie alte Möbel, die keiner mehr brauchte.
    In der Nacht nach dem Tod der Mutter hatte Samuel ebenfalls das schreckliche Fieber bekommen. Er wird sterben, hatte ein Nachbar gesagt. Ein anderer meinte, man solle die Hütte am besten gleich mit ihnen beiden anzünden, sie seien ohnehin verloren. Doch dann war die alte Hebamme gekommen, hatte sie mitgenommen undin das Kloster gebracht. Der Herrgott ist mit den Kindern, hatte sie gemurmelt und sie beide durch das große Tor geschoben.
    Seitdem waren sie hier und Samuel wurde von Tag zu Tag schwächer. Johanna hielt ihn fest umklammert und lehnte sich an seinen kraftlosen Körper. Ihr Kopf wurde schwer, sie wollte sich hinlegen, nur für einen kurzen Moment die Augen schließen, nicht schlafen, nur ausruhen vom Tag.
    Plötzlich schreckte sie hoch. Ihr war, als hätte ein Luftzug ihre Wange gestreift. Johanna lauschte.
    Vereinzelt war leises Stöhnen zu hören, aber sonst war es still in der Kirche.
    Dann sah sie den Fremden.
    Hoch ragte er zwischen den Kranken auf, eine dunkle Gestalt in einer langen Kutte. Eine weit in die Stirn gezogene Kapuze verbarg das Gesicht. Johanna hielt die Luft an und machte sich ganz klein. Wer war dieser Mann und wie war er in die Kirche hereingekommen? Sie wusste, dass die schwere Eichentür des Klosters nachts abgeschlossen wurde.
    So wollte man verhindern, dass die Menschen von ihren Lagern aufstanden und zurück in ihre Häuser flohen. Die Krankheit sollte nicht aus
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