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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder
Autoren: Salman Rushdie
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groß, dass sie mir schnurgerade in die Augen schaute. Und sie war so nah, dass ich mich beinahe in ihrem Duft hätte verlieren können. »Erst seit einer halben Stunde, aber es hat sich
angefühlt
wie ein paar hundert Jahre. Also los.«
    »Moment mal. Was?«
    »Du sollst mich zur Schule mitnehmen.«
    Okay. Also kannte ich sie vielleicht doch. Von irgendwoher. Ich versuchte, sie mir in einem meiner Kurse oder sonst wo auf dem Schulgelände vorzustellen, versagte aber kläglich. Ich malte mir aus, wie sie auf einer Waldlichtung um einen Kerl herumhüpfte, den sie gerade irgendeinem heidnischen Gott geopfert hatte. Dieses Bild überzeugte mich mehr. »Äh – Thornking-Ash?«
    Sie warf mir einen vernichtenden Blick zu.
    Bedeutungsvoll betrachtete ich ihre Jeans mit Schlag. »Ich kann mich nur nicht erinnern, ein so faszinierendes Geschöpf wie dich unter den Schülern bemerkt zu haben.«
    Bei dem Wort »Geschöpf« lächelte sie und öffnete die Beifahrertür. »Ach, wirklich? Los jetzt.«
    Ich starrte das Auto an, als sie die Tür hinter sich zuknallte. Ich war es gewöhnt, selbst der freche Kerl zu sein, der die Leute überrumpelte. Das Mädchen gestikulierte ungeduldig durchs Beifahrerfenster.
    Ich dachte darüber nach, ob es eine schlechte Idee sein könnte, zu dieser Frau in den Wagen zu steigen. Nach einem Sommer voller Intrigen, Autounfälle und Feen war es das wahrscheinlich.
    Ich stieg ein.
    Das Radio erwachte summend zum Leben, sobald ich den Motor anließ, und sie verzog das Gesicht. »Wow. Du hörst dir vielleicht einen Mist an.« Damit schaltete sie auf einen der voreingestellten Sender um, und ein schwindelerregend schneller Reel ertönte. Das trübe Display des Radios zeigte 113 , 7 . Ich bin kein Technikfreak (allerdings nur, weil Technik mich nicht so interessiert), aber ich glaubte nicht, dass Autoradios so etwas tun sollten.
    »Okay«, meinte ich schließlich und fuhr an. »Du gehst also auch auf die Thornking-Ash. Wie heißt du?«
    »Das habe ich nie behauptet«, erwiderte sie. Sie legte die nackten Füße aufs Armaturenbrett, die Clogs blieben auf der Fußmatte. »Ich habe dich nur gebeten, mich dort hinzufahren.«
    »Aber natürlich. Wie dumm von mir. Wie heißt du?«
    Das Mädchen betrachtete meine Hände am Lenkrad, als könnte die Antwort auf diese Frage auf meinen bekritzelten Handrücken zu finden sein. Nachdenklich verzog es das Gesicht. »Nuala. Nein – Elenora. Nein – Polly … Nein, warte. Nuala hat mir am besten gefallen. Ja, bleiben wir bei Nuala.«
    Sie sprach den Namen aus, als enthielte er eine Menge U: Nuuuuuuuuuala. Sie lächelte halb, ein selbstgefälliges Lächeln, das mir in meinem eigenen Gesicht lieber war.
    »Bist du sicher, dass du dabei bleiben willst?«
    Sie musterte ihre Fingernägel und kaute dann an einem herum. »Es ist das Privileg einer Frau, es sich anders zu überlegen.«
    »
Bist
du denn eine Frau?«, fragte ich.
    Finster blickte Nuala mich an. »Hat dir noch nie jemand gesagt, dass es sehr unhöflich ist, so etwas zu fragen?«
    »Selbstverständlich. Wie ungezogen von mir. Also, sind wir uns schon irgendwo begegnet?«
    Nuala wedelte mit einer Hand. »Würdest du mal den Mund halten? Ich versuche zuzuhören.« Sie verstellte den Sitz, neigte die Rückenlehne weit nach hinten und starrte einen Moment lang an den Wagenhimmel, ehe sie die Augen schloss. Mich überkam die grässliche Vorstellung, dass sie gar nicht der Musik im Radio lauschte, sondern irgendeiner fernen Melodie, die nur sie hören konnte. Schweigend fuhr ich weiter, behielt sie aber im Auge. Die Nachmittagssonne fiel durch die Seitenfenster und beleuchtete eine Galaxie von Sommersprossen auf ihren Wangen. Die Sommersprossen wirkten irgendwie unpassend: sehr unschuldig. Sehr menschlich. Dann schlug sie die Augen auf und sagte: »Du bist also Sackpfeifer.«
    Das brauchte keine übernatürliche Erkenntnis zu sein. Jeder, der sich während meiner Vorstellung für Bill draußen vor dem Laden aufgehalten hatte, hätte das hören müssen. Trotzdem konnte ich nicht anders, als mir einzubilden, dass ihre Worte irgendeine unterschwellige Botschaft enthielten. »Ja. Ein grandioser obendrein.«
    Nuala zuckte mit den Schultern. »Du bist ganz gut.«
    Ich warf ihr einen Blick zu. Sie lächelte auf ziemlich spitze Art. »Du willst mich nur ärgern.«
    »Ich will damit nur sagen, dass ich schon bessere gehört habe.« Nuala wandte mir das Gesicht zu, und ihr Lächeln erlosch. »Ich habe auch eure Unterhaltung
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