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Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)

Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)

Titel: Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)
Autoren: Sharon Draper
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erhalten.
    Meine Mom schnappte nach Luft, dann sagte sie eine volle Minute gar nichts. Schließlich atmete sie tief durch und protestierte schwach: »Aber ich weiß, dass sie intelligent ist. Ich kann es in ihren Augen sehen.«
    »Sie lieben sie. Wunschdenken ist normal«, teilte Dr. Groß ihr freundlich mit.
    »Nein, sie hat einen Funken – nein, mehr als das –, eine Flamme echter Intelligenz. Ich weiß es einfach«, beharrte meine Mutter und klang etwas energischer.
    »Es braucht Zeit, die Einschränkungen eines geliebten Kindes zu akzeptieren. Sie hat eine Zerebralparese, Mrs Brooks.«
    »Ich kenne den
Namen
ihrer Verfassung, Doktor«, sagte meine Mutter mit eisiger Stimme. »Aber einen Menschen macht so viel mehr aus als der Name einer Diagnose auf einem Arztblatt!«
    Guter Versuch, Mom
, dachte ich. Aber ihre Stimme verlor bereits an Schärfe, schmolz dahin in schlaffer Hilflosigkeit.
    »Sie lacht über Witze«, teilte meine Mutter ihm mit. Das Eis in ihrer Stimme war von Verzweiflung abgelöst worden. »Genau an der richtigen Stelle.«
    Moms Stimme wurde leiser. Was sie sagte, klang lächerlich – selbst in meinen Ohren. Aber ich verstand, dass sie einfach nicht die richtigen Worte fand, um zu erklären, dass sie instinktiv wusste, dass einiges an Intelligenz in mir steckte.
    Dr. Groß blickte von ihr zu mir. Er schüttelte den Kopf und sagte dann: »Sie haben Glück, dass sie lächeln und lachen kann. Aber Melody wird nie in der Lage sein, alleine zu laufen oder auch nur einen einzigen Satz zu sprechen. Sie wird nie in der Lage sein, alleine zu essen, auf die Toilette zu gehen oder mehr als nur einfache Anweisungen zu verstehen. Wenn sie diese Tatsache einmal akzeptiert haben, dann können sie über die Zukunft nachdenken.« Das war einfach nur gemein.
    Meine Mom weint so gut wie nie. Aber an diesem Tag tat sie es. Sie weinte und weinte und weinte. Dr. Groß musste ihr ein ganzes Päckchen Taschentücher geben. Beide beachteten mich nicht, während sie schluchzte und er versuchte, sich etwas Nettes einfallen zu lassen, was er zu ihr sagen könnte, damit sie sich besser fühlte. Er machte seine Sache nicht besonders gut.
    Schließlich nannte er ihr verschiedene Möglichkeiten. »Sie und ihr Mann müssen mehrere Entscheidungen treffen«, sagte er zu Mom. »Sie können sich entschließen, sie zu Hause zu behalten, oder Sie können sie auf eine Sonderschule für Kinder mit besonderen Bedürfnissen schicken. Vor Ort gibt es da nicht viel Auswahl.«
    Woher nehmen sie diese fast schon sympathisch klingenden Wendungen, um Kinder wie mich zu beschreiben?
    Mom gab einen Laut von sich, der klang, als würde ein kleines Kätzchen miauen. Sie war kurz davor auszuflippen.
    Dr. Groß fuhr fort. »Sie können auch beschließen, Melody in eine Wohneinrichtung zu geben, wo man sich um sie kümmern und ihr das Leben möglichst angenehm gestalten kann.«
    Er zog eine bunte Broschüre hervor, auf der vorne ein lächelndes Kind im Rollstuhl abgebildet war, und reichte sie Mom. Ich zitterte, als sie sie entgegennahm.
    »Mal sehen«, sagte der Arzt, »Melody ist, äh, jetzt fünf. Ein perfektes Alter, um sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Sie und Ihr Mann können mit Ihrem Leben fortfahren, ohne dass sie Ihnen zur Last fällt. Mit der Zeit werden ihre Erinnerungen an Sie verblassen.«
    Ich starrte Mom verzweifelt an. Ich wollte nicht weggeschickt werden. War ich eine Last? So hatte ich noch nie darüber nachgedacht. Vielleicht wäre es tatsächlich einfacher für sie, wenn ich nicht da wäre. Ich schluckte. Meine Hände wurden kalt.
    Mom sah mich nicht an. Sie durchbohrte Dr. Groß mit Mörderblicken. Sie zerknäulte das Taschentuch in ihrer Hand und stand auf. »Lassen Sie sich etwas gesagt sein, Doktor. Weder Himmel noch Hölle könnten uns dazu bewegen, Melody in ein Pflegeheim zu schicken!«
    Ich blinzelte. War das meine Mutter? Ich blinzelte noch einmal und sie war immer noch da und hatte sich wütend vor Dr. Groß aufgebaut. Sie war noch nicht fertig.
    »Wissen Sie was?«, sagte meine Mutter, als sie die Broschüre zornig in den Papierkorb warf. »Ich finde, Sie sind kalt und gefühllos. Ich hoffe, dass Sie nie ein Kind mit Beeinträchtigungen kriegen. Wahrscheinlich würden Sie es mit dem Müll entsorgen!«
    Dr. Groß sah schockiert aus.
    »Und außerdem«, fuhr sie fort, »glaube ich, dass Sie Unrecht haben – ich weiß, dass Sie falsch liegen! Melody hat mehr Verstand in ihrem Kopf versteckt, als Sie jemals
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