Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)

Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)

Titel: Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)
Autoren: Sharon Draper
Vom Netzwerk:
sagte er mit einer Stimme, die mir zu verstehen gab, dass er das alles für reine Zeitverschwendung hielt.
    Als die blaue Karte an die Reihe kam, deutete ich darauf und machte ein Geräusch. »Ba!«, sagte ich.
    »Fantastisch! Großartig! Hervorragend!«, rief er. Er lobte mich, als hätte ich gerade die Aufnahmeprüfung fürs College bestanden. Hätte ich meine Augen verdrehen können, ich hätte es getan.
    Dann zeigte er mir Grün, also strampelte ich und machte ein Geräusch. Aber mein Mund kann den G-Laut nicht formen. Der Arzt sah enttäuscht aus.
    Er kritzelte etwas auf sein Klemmbrett, zog einen anderen Kartenstapel hervor und sagte dann laut: »Ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen, Melody. Das wird vielleicht schwierig, aber gib dein Bestes, okay?«
    Ich sah ihn nur an und wartete, während er die erste Kartenreihe vor mir ausbreitete.
    »Nummer eins. Welche von diesen Karten unterscheidet sich von den anderen?«
    Hat er diesen Quatsch aus der
Sesamstraße
?
    Er zeigte mir Bilder von einer Tomate, einer Kirsche, einem runden, roten Luftballon und einer Banane. Ich wusste, dass er als Antwort wahrscheinlich den Luftballon hören wollte, aber das schien mir zu einfach. Also zeigte ich auf die Banane, weil die ersten drei rund und rot waren und die Banane nicht.
    Dr. Groß seufzte und machte sich noch mehr Notizen. »Nummer zwei«, sagte er. Er zeigte mir vier weitere Karten. Diesmal waren es Bilder von einer Kuh, einem Wal, einem Kamel und einem Elefanten. »Welches dieser Tiere bringt ein Kalb zur Welt?«
    Na ja, ich schaue ständig Tiersendungen. Ich weiß ganz genau, dass
alle
abgebildeten Tiere Babys haben, die man »Kalb« nennt. Ich dachte, Ärzte seien schlau. Was sollte ich tun? Ich schlug langsam und vorsichtig auf jedes einzelne Bild. Und dann noch mal, nur um sicherzugehen, dass er es kapierte. Ich glaube nicht, dass er das tat.
    Ich hörte, wie er »Kuh« murmelte, während er sich noch mehr Notizen machte. Er hatte mich eindeutig aufgegeben.
    Ich entdeckte eine Ausgabe von
Goodnight, Moon
in seinem Bücherregal. Ich glaube, es war auf Spanisch und hieß
Buenas Noches, Luna
. Es anzuschauen, wäre lustig gewesen, aber ich konnte ihm nicht sagen, dass ich das Buch gerne gehabt hätte.
    Nachdem ich
Sesamstraße
und
Dora
eine Million Mal gesehen und stundenlang spanische Sender geschaut habe, vestehe ich ziemlich viel Spanisch, wenn es langsam genug gesprochen wird – jedenfalls kenne ich genug Wörter, um den Titel dieses Buches zu entziffern. Danach hat er mich natürlich nie gefragt.
    Ich kannte die Worte und Melodien von Hunderten von Liedern – eine Symphonie, die in meinem Kopf explodiert und die niemand außer mir hören kann. Aber er hat mich nichts über Musik gefragt.
    Ich kannte alle Farben und Formen und Tiere, die Kinder in meinem Alter kennen sollten, und noch eine Menge mehr. In meinem Kopf konnte ich bis tausend zählen – vorwärts und rückwärts. Ich konnte Hunderte von Wörtern mit einem Blick identifizieren. Aber all das steckte in mir drinnen fest. Obwohl Dr. Groß etwa eine Million Jahre lang die Universität besucht hat, würde er nie schlau genug sein, um in mich hineinzugucken. Also setzte ich mein Behindertengesicht auf und reiste in Gedanken zurück in den letzten Sommer, als Mom und ich im Zoo gewesen waren. Die Elefanten hatten mir besonders gut gefallen, aber was für ein Gestank! Tatsächlich erinnerte mich Dr. Groß an einen von ihnen. Meine Mom und der Doktor hatten keine Ahnung, warum ich lächelte, als Mom meinen Rollstuhl ins Wartezimmer schob, während er seine Beurteilung über mich schrieb. Es dauerte nicht lange.
    Es überrascht mich immer wieder, wie Erwachsene davon ausgehen, dass ich nicht hören kann. Sie sprechen über mich, als wäre ich unsichtbar, halten mich für zu zurückgeblieben, um ihrer Unterhaltung folgen zu können. Dadurch erfahre ich so einiges. Aber dieses Gespräch war echt grauenhaft. Er hat nicht einmal versucht, es meiner Mom schonend beizubringen. Ich bin mir sicher, dass sie sich gefühlt hat, als wäre sie von einem Lastwagen überrollt worden.
    Er begann mit einem Räuspern. »Mrs Brooks«, sagte er dann, »meiner Ansicht nach ist Melody schwer hirngeschädigt und hochgradig zurückgeblieben.«
    Wow! Obwohl ich erst fünf war, hatte ich genug Berichte über behinderte Menschen im Fernsehen gesehen, um zu wissen, dass das schlecht war. Echt schlecht. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher